Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
zu frisieren. Margreth hatte dagesessen und dem entstellten Körper halb den Rücken zugewandt, während sie mit ruckartigen Zügen den Kamm durch Juttas dünnes Haar zog. Nachdem sie ihr die Ordenstracht angezogen hatten, besprenkelte Hildegard sie mit Blütenöl und wickelte den Rosenkranz zwischen ihre Finger.
Einige Tage später hörte Hildegard, wie die jüngsten Schwestern darüber sprachen, welch ein bezaubernder Duft von Rosen den toten Körper eingehüllt habe. Agatha meinte sogar, sie habe ein leuchtendes Kreuz am Himmel gesehen, als sie in der Dunkelheit im Innengarten gestanden und darauf gewartet hatten, wieder hereingelassen zu werden. Hildegard musste nicht einmal die Stimme heben, um sie zum Schweigen zu bringen. Die Zurechtweisung war in keiner Weise missverständlich, und Agatha hatte den Nacken gebeugt und in die Pantoffeln geweint, die sie für den Abt stickte.
Es ist still in der Frauenklause. Gleich läutet es zur Komplet, und Hildegard muss aufstehen. Ihre Knie fühlen sich schwach und geschwollen an, und sie reibt durch die Tracht hindurch ihre Beine. Sie kniet vor dem Kruzifix an der Wand. Hilf mir, flüstert sie. Hilf mir, denn ich kann weder sehen noch hören .
Die Brüder beten das letzte Gebet des Tages im Kapitelsaal, während Hildegard die Schwestern zur Kirche führt. Die Stimmen der Frauen steigen und fallen im Takt mit Hildegards Händen. Sie glaubte einmal, sie würde von einer himmlischen Seligkeit erfüllt, wenn es ihr vergönnt wäre, Augenblicke wie diesen zu erleben. Jetzt berühren die Töne sie nicht im Geringsten. Wasist überhaupt schön? Was ist hässlich? Jeder sprunghafte Gedanke wird überwuchert von zähen, wilden Gewächsen, wie Spuren, die im Wald verschwinden.
Als sie ein Kind war, verfolgte sie einmal einen Hasen im Garten bei Bermersheim. Falk hatte das erschrockene Tier wie verrückt angebellt, und sie hatte ihn im Hundezwinger eingesperrt. Danach konnte sie den Hasen nicht mehr finden. Sie suchte und suchte, aber er musste einen Spalt in der Mauer gefunden und sich nach draußen in die Freiheit gezwängt haben. Sie war traurig, obwohl sie dem Tier nur aus dem Garten hatte helfen wollen. Sie hockte sich ins Gras und weinte mit geschlossenen Augen. Als sie die Augen wieder öffnete, fiel Licht durch die Wolken, und der Bach bahnte sich sprudelnd seinen Weg durch das Schilf. Sie warf sich auf die Knie und dankte Gott für all die Schönheit. Jetzt kann sie nicht einmal beim Klang der Psalmen Freude empfinden, die zuerst zart und vibrierend aus einem einzelnen Mund kommen, gefolgt von vielen Stimmen, wie Silberglocken für den Herrn.
Hildegard hebt die Hände, und die Schwestern verstummen. Der Priester liest, sie klammert sich an seine Worte, die zusammenhanglos unter der mit Malereien verzierten Kirchendecke tanzen. Was ist Schönheit, was ist hässlich?, denkt sie wieder. Was bin ich für ein Mensch, wenn ich nicht länger unterscheiden kann und nicht länger von Gottes Schöpfungswerk berührt werde?
Krankheiten können auf der Haut ausbrechen, als Geschwülste, Male oder Ausschlag, der Blüten ähnelt. Manchmal nimmt ihr der eintönige Gesang der Mönche alle Luft, sodass sie meint, sie werde erstickt. Die hellen Stimmen der Frauen haben ihr immer gefallen, Gott sicher ebenso, aber selbst wenn ihr Klang so rein wie nur möglich erschallt, kann ein schwerer und bräunlicher Ton wie ein Erdrutsch durch den Gesang gehen. Dann bittet sie sie für gewöhnlich, von vorn zu beginnen, auch wenn der Psalm beinahe beendet ist. Normalerweise erklärt Hildegard unermüdlich, wie der Gesang klingen soll, obwohl weder Agatha noch Margreth verstehen, was sie meint, wenn sie sagt: Der Wind im April, morgendlicher Tau, Septemberhimmel, der Duft im Apfelgarten meines Vaters.
Sie singen, wie sie es sie gelehrt hat, aber da ist eine Trägheit in ihren Stimmen, dass der Gesang sich nicht aufschwingen kann. Heute Abend unterbricht sie nicht, sondern wünscht nur, den Gesang hinter sich zu bringen, um endlich Ruhe zu haben. Die zehn größten Schwestern stehen hinten und bilden eine halbkreisförmige Mauer um die vorderen sieben. Richardis steht ganz links, der Klang ihres Namens ist eine steinerne Kirche mit zwei soliden Türmen. Sie hat die Angewohnheit, die Augenbrauen mit den Daumen zu glätten, wenn sie in Gedanken versunken dasteht.
Margreth steht neben Richardis, sie hat das Kind, das ihr genommen wurde, als sie ins Kloster kam, nie erwähnt, ihre Haut ist fein wie
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