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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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Weizenteig, sie schweigt lieber, als zu sprechen. Elf junge Mädchen mit Adelstiteln. Liebt sie sie allesamt, wie sie es sollte? Ist sie wirklich ihre Mutter? Sie sieht in ihre Gesichter, auf ihre gefalteten Hände. Sie kennt ihre innersten Gedanken, sie kommen zu ihr und vertrauen sich ihr an. Hildegard belehrt sie, dass sie aus den Unterschieden zwischen ihnen lernen sollen, auch aus der Irritation, die sie ab und an untereinander wecken. Menschen können loyal sein und sich lieben, allein weil sie in dieselbe Familie hineingeboren sind, ohne jemals die Handlungen des anderen zu verstehen. Menschen können zusammen aufwachsen, können Seite an Seite leben, ohne sich wirklich zu kennen, aber hier bedeutet das nichts. Hier sollensie ihre gegenseitige Gesellschaft wertschätzen und aushalten, ohne starke Bande zu anderen als zu Gott zu knüpfen. Sie sollen sich nicht gegenseitig kontrollieren, sondern nur sich selbst auf Sünde und Schwäche prüfen. Innerhalb der Klostermauern sollte sich kein Mensch einsam fühlen. Hier vereinen sie ihre Kräfte, um Gott anzubeten. Hier entzündet Gott Licht in ihren Herzen, Licht für jede einzelne Seele, für die sie beten. Dennoch fühlt sich Hildegard mit der Zeit wie ein Büschel Gras, das der Fluss vom Ufer losgerissen hat. Ständig wirbeln ihre Gedanken in alle Richtungen, sodass sie nicht länger zu erklären versucht, was sie denkt und sieht. Obwohl sie oft mit Richardis spricht, ist sie nicht sicher, ob sie sie wirklich versteht. Verstanden werden zu wollen ist ein schändlicher Wunsch. Dass Gott in ihre Seele sieht und Böse und Gut gegeneinander abwägt, muss genug sein. Dennoch fühlt sie eine stille und sündige Freude, wenn Richardis ab und an Sätze zu Ende führt, die sie, Hildegard, begonnen hat, oder ihr eine besonders gute Frage stellt, die zeigt, dass sie weiter darüber nachdenkt, was Hildegard gesagt hat. Volmar ist immer noch der Einzige, mit dem sie reden kann, ohne sich Gedanken machen zu müssen, ob er ihr folgen kann. In seiner Gesellschaft hat sie viele Ideen entwickelt, die sie Gott nähergebracht haben. Einmal sagte sie spaßeshalber, ihre Seelen seien in der Mitte zusammengewachsen, aber das erheiterte ihn nicht. Er zuckte zusammen und stürzte hinaus in den Kräutergarten. Ruhiger, geduldiger Volmar, das sah ihm gar nicht ähnlich. Sie hatte nicht gewagt, ihm zu folgen, sondern musste mehrere Tage in quälender Stille warten. Endlich hatte er sie aufgesucht, während sie Hagebutten wusch, um Öl zu machen, das bei Brandwunden helfen würde. Er hatte sich für sein unangemessenes Verhalten entschuldigt, es kopflos und kindlich genannt. Sie hatte seine Entschuldigung angenommen, aber als sie ihn fragen wollte, warum er es sich so zu Herzen genommen habe, hob er nur die eine Hand und legte die andere über seinen Mund.
 
    Es zieht im Kirchenschiff, Hildegards Augen tränen, und die Lichter fließen zu undeutlichen Kränzen ineinander. Sie blinzelt, um wieder einen klaren Blick zu bekommen, blinzelt und blinzelt, macht mit dem Zeigefinger das Kreuzzeichen über ihren Augenlidern, und der Blick verändert sich: Über die Gesichter der Schwestern flackern Zeichen eines unbekannten Alphabets. Der Priester hebt die Hände, um den Segen über die Frauen zu sprechen, zwischen seinen Händen aufgespannt wallt ein Banner, unsichtbar für andere als Hildegard. Lingua ignota , die unbekannte Sprache, steht dort mit hochroten Buchstaben. Als er die Arme wieder sinken lässt, verschwinden die Worte. Da sind dreiundzwanzig Buchstaben. Richardis hat als einzige drei Buchstaben auf der Stirn, alle anderen tragen zwei. Hildegard tritt einen Schritt näher, als wolle sie die Buchstaben berühren. Obwohl sie die fremden Zeichen nie zuvor gesehen hat, kennt sie bereits ihre Bezeichnungen. Sie kennt sonderbare Worte, die die Buchstaben bilden: Liuionz, Dieuliz, Jur, Vanix.
    Als der Priester verstummt, verschwindet die Schau. Hildegard trippelt von einem Fuß auf den anderen. Sie muss sofort mit Volmar sprechen.
 

 

2
      
Der Wind hat sich gelegt. Hildegard weiß nicht genau, was sie zu Volmar sagen soll, aber es liegt eine Freude darin, zielgerichtet durch die Dunkelheit zu gehen. Es ist, als zertrete sie mit jedem Schritt die stumme Apathie, trete sie durch die harte Erde hindurch hinunter zum Teufel, wo sie hingehört. Mit der Hand gestikuliert sie vor ihrem Gesicht in der Luft herum, zeichnet jedes einzelne der dreiundzwanzig Symbole nach.
    Sie findet Volmar wie

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