Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
mich, mir die sündigen Vorstellungen anderer anheften zu lassen. Ich will es nicht hören, ich will es nicht hören, ich will es nicht hören!«
Einer der Kranken wacht von dem Radau auf, er jammert und ruft, und Volmar muss Hildegard allein lassen, um nach dem Patienten zu sehen.
Als er zurückkommt, hofft ein Teil von ihm, dass Hildegard gegangen ist, aber sie sitzt auf seiner Matratze und hat die Arme um die Knie geschlungen.
»Ich bin dumm«, flüstert sie. »Ich bin so schrecklich schwach und dumm, und ich kann nicht ertragen, dass du für meine Dummheit bezahlst, indem deine Ohren das Gerede anhören müssen.«
»Gedankenlosigkeit und Dummheit sind nicht dasselbe«, sagte er müde und bleibt in der Türöffnung stehen. »Der einzige Grund, der mir dafür einfällt, dass du die Boshaftigkeit ihres Geredes nicht verstehst, ist, dass du nicht denkst wie sie.«
Hildegard nickt. Sie hat Kopfschmerzen. Sie versucht, sich die geheimen Buchstaben vor Augen zu rufen, um die energische Freude zurückzugewinnen, mit der sie herkam. Sie steht auf und Volmar macht Platz, um sie vorbeizulassen.
»Ich weiß nicht, ob ich jemals so darüber sprechen kann, dass irgendein Mensch es wirklich versteht, Volmar. Es ist, als ob meine Lebenskraft, ja selbst mein Atem mit ›Dem Lebenden Licht‹ und der Stimme, die Gott mir geschenkt hat, verwoben sind. Wenn er sich mir nicht zeigt, wenn ich nicht sprechen kann, ist es wie ein böser Tod, wie eine Verdammnis … Volmar, du musst mir vergeben, dass ich so unbeholfen spreche. Wenn ich versuche, es dir zu erklären, ist es, als bemächtige sich der Teufel meiner Zunge und verdrehe meine Stimme, und es klingt wie eine Rede der Sünde.«
»Sollen die Buchstaben aufgeschrieben werden?«, fragt Volmar leise.
Sie hebt die Augenbrauen, die Andeutung eines Lächelns lockert ihr Gesicht auf.
Sie öffnet die Außentür. Er nickt, sie macht mit drei Fingern das Zeichen des Schweigens.
3
Hildegard schüttelt verärgert den Kopf und zeichnet zum zehnten Mal dasselbe Zeichen in die Wachstafel. Ihre Schrift ist ungelenk, ihre Hände gehorchen nur langsam. Sie besteht darauf, dass Volmar die Zeichen zu Pergament bringt. Es ist, als wolle er seine Augen nicht gebrauchen, als täte er es, um sie zu ärgern. Die Zeichen sind so einfach, und trotzdem sind sie noch nicht weitergekommen als bis zum dritten Zeichen. Volmar schwitzt, und seine Hände zittern. Als Hildegard sehen will, was er macht, stößt sie gegen das Pult. Der Kiel verrutscht und alles ist ruiniert. Einer der Brüder sitzt über ein Manuskript gebeugt am anderen Ende des Skriptoriums. Er glotzt sie an, aber Hildegard achtet nicht darauf. Volmar versucht es erneut, und dieses Mal gelingt es offenbar, denn Hildegard klatscht lautlos in die Hände. Der Kampf beginnt von vorne mit dem vierten Zeichen: Hildegard ritzt in die Wachstafel, er ritzt das gleiche Zeichen daneben, bis sie zufrieden ist, aber sobald er mit Tinte schreibt, geht es schief. Abt Kuno fragte, welchem Zweck ihre Arbeit dienen solle, aber Volmar konnte ihm keine andere Antwort geben, als dass Hildegard das Alphabet während eines Stundengebets in einer Schau gesehen habe. Ein Jahr Schweigen und Stillstand, und dann sieht sie ein völlig unverständliches Alphabet. Sie haben die Erlaubnis erhalten, aussortierte Stücke Pergament zu benutzen, unebene, abgehackte Stücke, die von den Mönchen sonst nur für Schreibübungen verwendet werden.
Mit dem sechsten Zeichen geht es besser, aber beim siebten wird Hildegard so wütend, dass sie geht.
Nach der Non kommt sie mit Richardis ins Infirmarium. Volmar weiß nicht, ob sie ihn absichtlich ignoriert oder ob sie wirklich so sehr darin vertieft ist, der jungen Frau die Behandlung von Geschwüren zu erläutern, dass sie ihn überhaupt nicht bemerkt. Er sieht nach seinen eigenen Patienten, weicht ihr nicht direkt aus, wartet aber doch, damit sie nicht Seite an Seite bei den Kranken zu stehen kommen. Kurz bevor Hildegard zur Vesper zurück in die Frauenklause geht, begegnen sie sich im Kräuterlager. Unter Hildegards Anleitung reinigt Richardis Akanthuswurzeln, die für Umschläge gegen gefühllose Hände und Füße gebraucht werden.
»War es Absicht?«, flüstert Hildegard ihm zu. Er erstarrt, weil sie sich erlaubt, so mit ihm zu sprechen, und dabei sind sie noch nicht einmal alleine. Richardis lässt das Messer ruhen.
»Ich verstehe nicht …«, versucht er, aber sie fährt barsch dazwischen.
»Die
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