Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
gerade so verwirrt bin wie du. Als ich heute früher am Tag das Skriptorium verließ, weil ich meine Wut nicht bändigen konnte, dachte ich, wir müssten es aufgeben, das Alphabet niederzuschreiben. Ich dachte, ich sei vielleicht nur von meiner kindlichen Erleichterung darüber verleitet worden, wieder die Gegenwart des Herrn in mir zu fühlen, und dass ich deshalb seinen Wünschen nicht gehorchte, sondern meinem eigenen, trotzigen Willen folgte. Nach der Non dachte ich das Gegenteil. Dass es vielmehr mein sündiger Wille sei, der das Alphabet am liebsten wieder vergessen wollte, und der Herr geduldig weiter nach mir ruft. Nun weiß ich wieder nichts. Wer kann mir helfen, auf diese Art von Fragen Antwort zu finden, Volmar? Und wer pflanzt sie in mir? Ist es Gott oder der Teufel?«
Volmar sagt nichts. Er schiebt die Wurzeln, die Richardis zuvor gereinigt hat, zu einem Haufen zusammen. Er sammelt die Schalen zu einem weiteren und reinigt das Messer mit einem Lappen. Hildegard sagt nichts mehr. Als er alles zur Seite geräumt hat, sieht er, dass sie zittert. In plötzlichem Fieber klappert sie mit den Zähnen. Sie weigert sich, ein Bett im Infirmarium in Anspruch zu nehmen, sondern stützt sich auf die erschrockene Richardis, die ihr zurück in die Frauenklause helfen muss. Volmar folgt ihnen bis hinunter zur Mauer. Richardis fragt immer wieder, was geschehen sei, aber weder Hildegard noch Volmar antworten ihr. Krankheiten kommen und gehen. Hildegard wurde schon so oft vom Fieber befallen.
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Richardis hat starke Hände. Sie streicht Hildegard übers Haar. Sie ist wie ein Kind, das im Bett liegt und weint und sich nicht bewegen kann, ohne dass es weh tut. Elisabeth kommt mit Salbe von Volmar, sie kocht Wein und Kräuter, rührt das warme Getränk mit Eiweiß auf und füttert Hildegard mit einem Löffel.
Der Löffel stößt gegen die Zähne, kreideweiße Blumen, wie Hildegard sie noch nie gesehen hat, wachsen zum Fenster herein. In den Augen des Raben glüht die Kälte, Pferdehufe klappern im Wind. Der Fluss folgt dem Fuß des Berges, in der Fiebernacht tritt er über seine Ufer und schiebt seine kalte Zunge unter Hildegards Decken. Der Fluss ist ein schwarzer Hengst, den der Reiter am kurzen Zügel hält, Schaumflocken, dunkle Felder aus Schweiß. Das Wasser lässt die Kleider am Körper kleben, es tut weh bis in die Knochen, die Welt dreht sich herum und herum, sodass Hildegard durch den Lärm rufen muss, rufen, dass Richardis sie nicht verlassen darf, dass Richardis ein Netz aus Haaren knüpfen und in den wilden Fluss werfen muss, denn sonst ertrinkt sie.
Feine Tropfen in der Luft verwischen Richardis' Gesicht. Ein grüner Heiligenschein umgibt ihr schwarzes Haar, sie streckt die Arme nach Hildegard aus, aber sie kann sie nicht erreichen. Die Kälte schabt an Schenkeln und Geschlecht, der Fluss ist dick wie breiiges Eis. Es ist der Samen des Winters, Hildegard trägt einen Fötus aus Schnee. Ein heftiger Schmerz spaltet den Körper, ein wildes Tier brüllt zwischen den Stämmen. Richardis kriecht auf allen vieren über einen Waldboden, das hellgrüne Frühjahrsgras teilt sich an der Stelle, an der sie hervorkommt, sodass sie eine Spur schwarzer Erde hinter sich herzieht. Sie kniet bei Hildegard, sie flüstert in der geheimen Sprache, als sei es ihre Muttersprache, und Hildegard lacht.
Als Hildegard nach fast einem Tag und einer Nacht erwacht, sitzt Margreth da, wo Richardis saß, als sie einschlief. Margreth hat die Augen geschlossen, ihre Wimpern berühren die breiten Wangenknochen. Hildegards Körper fühlt sich schwer an, die Schmerzen sind fort und das Fieber ist verschwunden. Die Krankheit ist durstig und hat einen sauren Geruch aus Schweiß, Schwefel und Galle hinterlassen. Hildegard will Margreth rufen, sagt aber stattdessen Richardis. Margreth erwacht so ruhig, wie sie geschlafen hat. Sie reicht ihr den Becher ohne ein Wort, sie wäscht ihr das Gesicht mit einem rauen Lappen.
Hildegard kann ihre Beine weiterhin nicht bewegen, also bleibt sie liegen, während die Frauen zur Vesper gehen. Es fällt nicht viel Licht in die Kammer, die Decke flimmert blau und gelb. Sie denkt an das Alphabet und die geheime Sprache. Wenn sie gesund ist, wird sie selbst mit dem Abt sprechen. Es ist nicht recht, Volmar für sie antworten zu lassen. Sie wird dem Abt sagen, die Welt sei voll von verborgenen und geheimen Dingen, die Gott nur in einem kurzen Aufscheinen offenbart. Es ist wie die Musik. Sie hat nie
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