Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
gesehen hat«, beginnt sie, »quer über den Gesichtern der Schwestern. Sie bildeten fremde Worte für Erlöser, Teufel, Frau und Mann. Und als ich hier herüberging, kamen weitereWorte zu mir, so natürlich, als wäre es eine alltägliche Sprache, die ich seit langem gekannt hätte.«
»Aber du hast die Sprache vorher nicht gehört?«
»Wo sollte ich sie gehört haben, Volmar? Es ist eine Sprache, die niemand spricht, sie hat einen Namen, aber der Name ist lingua ignota .«
»Das sahst du auch?«
»Es stand auf einem Banner zwischen den Händen des Priesters geschrieben.«
»Des Priesters?«
»Zwischen seinen Händen.«
»Zwischen den Händen des Priesters?«
»Buchstaben, Volmar. Ein Alphabet, das eine Sprache bildet – lingua ignota, litterae ignotae, verstehst du denn gar nicht?«
»Ich weiß nicht.«
»Gott gewährte mir einen kleinen Einblick in seine Geheimnisse, und du siehst aus, als wirst du jeden Moment einschlafen.«
»Es ist spät, Hildegard. Ich habe geschlafen. Gottes Geheimnisse sind nicht flüchtig, sie verschwinden nicht, weil man wartet, bis es Tag wird.«
Hildegard schüttelt den Kopf. Sie weint, aber Volmar steht nicht auf. Erst als sie zur Tür geht, bittet er sie doch, zu bleiben.
»Entschuldige«, flüstert sie, »kannst du mir meine Selbstsicherheit vergeben, Volmar?«
»Es fällt mir nicht schwer, dir zu vergeben, Hildegard, es ist mehr …«
»Ja?«
»Meine Vergebung ist nicht …«, er wägt seine Worte ab.
»Was? Wovon sprichst du?«
»Nichts ist anders geworden«, sagt er und steht auf. »Dass duim letzten Jahr so still gewesen bist, hat das Gerede anderer Menschen nicht verstummen lassen. Obwohl der Abt die Brüder für ihr Geschwätz züchtigt, und obwohl er aus demselben Grund im letzten Jahr gezwungen war, zwei Brüder vom Disibodenberg fortzuschicken, ist das Gerede da, wo Menschen versammelt sind, auch dort, wo sie in frommer Einmütigkeit leben sollten, eine ansteckende Krankheit. Und wenn der Abt die Brüder endlich dazu gebracht hat zu schweigen, kommen Reisende mit bösen Zungen. Sie reden von deinen Schauen, Hildegard, das ist nichts Neues, aber sie reden auch davon, dass die Strenge, mit der Jutta die Frauenklause leitete, nicht länger im Kloster herrscht.«
»Ich bin nicht Jutta, ich habe nie …«
»Nein, du bist nicht Jutta, und es will auch niemand, dass du sie sein sollst, Hildegard. Aber du teilst die Wasser. Es gibt viele, die zu dir stehen, sowohl hier im Kloster als auch außerhalb der Mauern, aber es gibt auch diejenigen, die gegen dich sind und nur darauf aus, dir zu schaden und boshafte Gerüchte zu verbreiten. Sie sagen, das Leben in der Frauenklause sei ausgelassen …«
Hildegard schnaubt verächtlich. »So haben sündige Menschen allzeit gesprochen«, sagt sie und legt die Arme über Kreuz. Volmar schweigt.
»Aber du glaubst ihnen vielleicht, Volmar?« Sie lacht trocken. Sie kam, um ihm etwas Wichtiges zu erzählen, und jetzt muss sie sich mit diesem törichten Gerede herumschlagen.
»Du weißt genau, dass ich das nicht tue«, sagt er leise. »Ich will nur, dass du darüber nachdenkst und dich darauf einrichtest.«
»Mich einrichten?«
»Du darfst ihrem Gerede keinen Nährboden geben. Dukannst nicht mitten in der Nacht angelaufen kommen, du darfst nicht … nein, das ist gleichgültig, Hildegard.«
»Was darf ich nicht, Volmar?«
»Du weißt selbst, was zu tun das Beste ist«, weicht er aus. »Ich kenne deine Frömmigkeit und die Klarheit deiner Gedanken, Hildegard, ich muss dir keinen Rat geben.«
»Du bist mein Freund«, flüstert sie, »ich will deinen Rat gerne entgegennehmen.«
Er hebt warnend die Hand. »Wir dürfen nicht von Freundschaft sprechen, Hildegard. Hier müssen wir unsere Nächsten alle gleich lieben.«
»Du bist mein Freund«, flüstert sie wieder. »Es ist ein größere Sünde, sich selbst und andere Menschen zu belügen, als …«
»Und Richardis?« Volmar betont jede Silbe des Namens.
»Richardis?«
»Richardis von Stade? Ist auch sie dein Freund?«
Hildegard steigen Tränen in die Augen. Sie setzt sich auf den Schemel, ohne ihn anzusehen.
»Was deutest du an, Volmar?«
»Das ist es ja gerade, Hildegard! Ich deute nichts an, aber da sind andere, die es tun. Sie reden von Bevorzugung, sie sagen, dass du …«
»Schweig still«, ruft Hildegard und hält sich die Ohren zu. »Verstehst du denn überhaupt nicht, Volmar? Ich möchte nicht von schlechten Gedanken infiziert werden, und ich weigere
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