Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Unterricht in Komposition erhalten, aber die Töne sind bereits da, bevor sie sie selbst hört. Es ist, als werfe der Gesang des Himmels, den Menschen nicht hören können, ein Echo in Bäumen und Blättern, in Steinen und Tieren und Menschen. Als entstünden die Töne aus dem Fleisch und der Seele und müssten von innen gehört werden, bevor sie anderen zu Ohren kommen können. Die Schwestern loben Hildegard für ihre Psalmen, und nach und nach, seit es viele geworden sind, hat der Abt seinen Widerstand aufgegeben. Sie will keinen Dank, denn das Einzige, was sie tut, ist, still zu seinund zu lauschen. Die Welt ist ein Psalm, der Gott preist, und nur Gott kann bestimmen, wie viele Töne zu hören sie die Erlaubnis bekommt. Auf die gleiche Art muss die geheime Sprache ein Teil von Gottes Herrlichkeit sein. Sie schließt die Augen. Das wird der Abt verstehen, und sie kann sich nur selbst dafür anklagen, sollte sie in ihrer Ungeduld noch einmal vergessen, sich verständlich zu erklären.
Girlanden aus Schatten ziehen sich unter der Decke der Kammer zusammen. Weit weg singen die Schwestern. Der Klang ist wohlriechender Rauch, der durch die Öffnungen und Spalten dringt und verdünnt über den Boden ihrer Kammer wabert. Der Traum von dem Fluss kehrt in einem kurzen Aufblitzen zurück, das Schneekind schmilzt in ihrem Schoß. Sie drückt die Nägel in ihre Schenkel. Fieber erwärmt das Blut, die kleinen Teufel der Hölle nehmen menschliche Gestalt an und tanzen und feiern in lebensecht wirkenden Träumen. Sie öffnet die Augen wieder. Die Schmerzen in den Beinen sind beinahe weg. Sie setzt sich auf und dankt Gott. Die Farbe verschwindet aus ihrer Zelle, die Dämmerstunde ist grau und weiß. Sie fasst sich an den Kopf, obwohl es nicht weh tut. Ihre Augen sind offen, aber der Blick fällt flackernd durch alles hindurch, federleicht und unbeschwert. Sie kann Gottes Stimme in ›Dem Lebenden Licht‹ hören, sie muss bereit sein.
In ›Dem Lebenden Licht‹ steht eine gleißende Flamme. Sie wechselt die Farbe von Gelb und Rot zu glühendem Weiß, sie speit eine dunkle Kugel aus Luft aus, die wächst und größer als das ganze Kloster wird. Die Flamme reckt sich zu der Kugel hin, als versuche sie, sie mit Funken zu entzünden. Die Flamme macht die Kugel zu Himmel und Erde, vollkommen und leuchtend. Aus der Erde wächst ein gewaltiger Berg, ausdem Berg eine Frau so groß wie eine Stadt. Ihr Kopf ist mit Gold und Edelsteinen gekrönt, sie trägt eine leuchtend weiße Tracht mit weiten Ärmeln, die vom Himmel bis zur Erde reichen. Ihr Schoß ist ein Flechtwerk aus Spalten und Öffnungen, dicht über der Erde schwimmen schwarze Mädchen durch die Luft, wie Fische durch das Wasser. Ihre glänzenden Körper schlängeln und winden sich durch die Öffnungen in ihrem Schoß. Die Frau erbebt, sie atmet tief ein, saugt die Kinder den ganzen Weg bis hinauf in ihren Kopf und entlässt sie durch ihren Mund. Wieder erglüht die lebende Flamme, streckt erlösende Hände aus und zieht die Haut von jedem der Kinder, um sie in weiße Trachten und Schleier zu kleiden. Gott spricht ganz deutlich zu ihr: Lege ab den alten, sündigen Menschen und kleide dich in die neue Heiligkeit. Du hast dich zu mir bekannt, und ich habe dich angenommen. Da sind zwei Wege: Der eine führt nach Osten, der Gottes Ort ist, der andere führt nach Norden, der Satans Ort ist. So du mich aufrichtig liebst, werde ich das tun, worum du mich bittest.
Die Augen der Frau sind so mild. Sie ist die Kirche, und ihre Kinder werden durch sie wiedergeboren in der Taufe, auf dass sie niemals wieder in Dunkelheit wandeln mögen. Ich werde empfangen und gebären , sagt sie. Viele gereichen mir zum Kummer, denn sie bekämpfen sich in törichten Streitigkeiten, aber viele werden auch umkehren und teilhaben am ewigen Leben.
Der Berg und die Frau und das Feuer und die Kugel verschwinden. Zurück bleibt ein Chor aus jungen Mädchen, in Weiß gekleidet. Sie tragen Seidenschleier um ihr offenes Haar und Goldkronen um die Stirn. Sie singen schöner als irgendein irdischer Gesang, und Hildegard erkennt Richardis' schmales Gesicht wieder.
5
Als die Frauen aus der Kirche zurückkehren, ist Hildegard auf den Beinen. Elisabeth will sie zurück ins Bett jagen, aber Hildegard weigert sich. Sie sitzt am Tisch im Refektorium und behauptet, sie sei gesund. Elisabeth besteht darauf, nach der letzten Nacht wenigstens Volmar zu rufen, da war Hildegard glühend heiß und redete im
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