Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Buchstaben? Ist es, weil du nicht willst? Ist es der Abt? Hat er etwas gesagt?« Er schüttelt resignierend den Kopf. Er nickt zu Richardis hin, und Hildegard zuckt mit den Schultern.
»Wir können dennoch reden, Volmar«, sagt sie gedämpft. Ihre Stimme schlägt um, sie klingt nicht mehr ganz so aufgebracht.
»Ich wurde so unruhig im Skriptorium«, flüstert er, als Richardis die Arbeit wieder aufnimmt. »Vielleicht sind es die Buchstaben, vielleicht ist es auch …«, er schüttelt den Kopf. »Ich konnte dem Abt nicht einmal erklären, wozu es gut sein soll!«
»Gott spricht zu mir, aber nicht stets mit den Worten, die wir am liebsten hören wollen«, antwortet Hildegard neutral. »Was wünscht der Abt? Vielleicht eine Worterklärung?« Sie lacht kurz auf, und Volmar gefällt der Ton in ihrer Stimme nicht.
»Hildegard, ich …«
»Vergib mir, Volmar«, unterbricht sie ihn, »es ist nicht meine Absicht zu spotten, aber was soll ich tun? Meine eigenen Fähigkeiten sind so ärmlich, und dennoch hat Gott auf mich gezeigt und entschieden, durch mich zu sprechen. Was soll ich anfangen? Soll ich Gottes Wunsch ignorieren und so tun, als hörte ich nicht, was er sagt, weil wir nicht die volle Bedeutung verstehen? Soll ich Gott anweisen, als ob er mein Diener sei, und ihm auferlegen, alles so deutlich zu zeigen, dass ich sein Schöpfungswerk bis ins kleinste Detail erklären kann, obwohl ich seinen Umfang niemals verstehen werde? Gott zeigt mir ein Alphabet und eine Sprache, was soll ich anderes tun als es niederschreiben und mich bemühen, die Worte präzise so auszusprechen, wie er es wünscht? Meine Stimme gehört mir nicht, und sie hat mir nie gehört.« Sie tritt ganz nah an ihn heran. »Verstehst du das nicht, Volmar? Ich vertraue keinem anderen als dir.«
Richardis lässt die Hände wieder ruhen. Sie schnieft. Hildegard steht mit dem Rücken zu ihr und bemerkt es nicht. Erst als sie noch einmal schnieft, dreht sie sich um.
»Richardis?«
»Ja, Mutter Hildegard.«
»Setz dich draußen vor die Tür und warte auf mich.«
Das Mädchen wischt sich die Hände an der Schürze ab und gehorcht. In der Türöffnung dreht sie sich um und sieht Volmar mit ihren schwarzen Augen direkt ins Gesicht.
»Ich weiß nicht, was du tun sollst«, flüstert Volmar aufrichtig. »Ich habe dir immer vertraut, Hildegard, und das werde ich auch weiterhin tun. Der Abt wünscht, dass du und die Frauen hier im Kloster bleiben sollen, und er zweifelt nicht an der Echtheit deiner Schauen. Der Prior ist eine misstrauische Natur,aber er will sich nicht offen gegen den Abt stellen. Ich will dich nicht länger mit dem boshaften Gerede und dem Widerstand unter einigen der Brüder ermüden. Aber ich bin gezwungen dir noch einmal einzuschärfen, dass du vorsichtig sein sollst. Ich sage das nicht, um dir zu schaden oder dich zu bitten, Gottes Stimme zu überhören. Ich weiß, dass Er dich als sein Instrument gebraucht und dass Er damit nicht nur zu dir spricht, sondern zu uns allen. Ich höre zu, so gut ich kann, Hildegard. Ich strenge meine Gedanken und meine Ohren an. Ich starre und starre auf alles, was ich deinem Willen nach sehen soll, ich schüttle meine Müdigkeit und meine umherschweifenden Gedanken ab, um Gott zu dienen, indem ich dir diene. Dennoch werde ich von Zeit zu Zeit von bangen Ahnungen erfüllt. Und selbst wenn du mich bittest, dir die Hintergründe für meine unruhigen Gedanken zu erklären, bleibe ich dir die Antwort schuldig. Ich besitze nicht die Gabe, Schauen zu sehen, ich kann nicht, so wie du es kannst, im Laufe eines Augenblicks Zusammenhänge verstehen, die meinen Verstand überschreiten. Ich will dir dienen Hildegard, aber ich bin kein leerer Bottich. Ich bin ein Sünder, ich verliere den Mut, ich …« Volmar hält inne, er verliert den Faden, und Tränen steigen ihm in die Augen.
»Du weinst«, flüstert sie, »das habe ich dich nie tun sehen.«
Er schüttelt den Kopf.
»Ich bin dein Lehrer, ich bin dein Diener. Ich bin dein Vater, dein Beschützer, dein Bruder, dein Schüler … ich bitte dich nicht, mich zu schonen, aber du musst mir die Zusammenhänge so gut erklären, dass ich dem Misstrauen entgegentreten kann, dass ich weiß, was ich dem Abt sagen soll, wenn er mich im Namen anderer Menschen fragt. Jedes Mal, wenn jemand dich angreift, treffen sie auch mich, Hildegard.«
Hildegard nickt nachdenklich.
»Ich weiß nicht, wie ich so gedankenlos sein konnte. Du musst mir glauben, wenn ich sage, dass ich
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