Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
ein elendiger Mensch bin ich?«
Volmar schüttelt den Kopf, bringt aber kein Wort heraus.
»Er macht mich zu seiner Posaune, ich jedoch stopfe die Posaune zu. Das Einzige, was zu hören ist, sind hässliche Misstöne. Er kettet mich an dieses Bett, und ich weiß, dass ich erst wieder das Recht bekomme, mich zu erheben, wenn ich aus meinemganzen Herzen gelobt habe, seinem Gebot zu folgen.« Sie atmet unnatürlich schnell.
»Wie kann ich dir helfen?«, flüstert er und legt seine Hand auf ihren Arm. »Sag mir, was ich deinem Willen nach tun soll.«
Sie wendet ihm wieder das Gesicht zu. Sie weint.
»Du musst mir helfen, Volmar. Ich weiß, wie schön du die Zeichen setzt, wenn du Abschriften anfertigst, und ich kenne die Freude, die du dabei empfindest, es zu tun. Du sollst das schreiben, was ich höre, und das zeichnen, was ich sehe. Du musst noch heute Abend zum Abt gehen und um seine Erlaubnis bitten, nein, sie einfordern. Ich vertraue auf dich, Volmar, ich weiß, er wird auf dich hören.« Sie befeuchtet ihre Lippen mit der Zunge, und er trocknet ihre Wangen mit seinem Ärmel. Sie weiß, dass er nickend einwilligt, obwohl sie es nicht sehen kann.
10
Sankt Veits Tag, 15. Juni 1146
In der Nacht träumt Hildegard, das Frühjahr habe gerade begonnen. Dennoch duftet es schwer und würzig nach reifen Äpfeln und Pflaumen, nach Thymian und Salbei. Sie geht alleine in ihrem dünnen Unterrock durch den Kräutergarten. Die Blumen sollten gerade knospen, aber einige sind bereits verwelkt, andere lassen die Köpfe hängen. Das Gras ist trocken wie im September. Es knirscht wie gefrorener Schnee unter den Füßen, eine gelbe Spur aus Asche hinter ihr.
Hildegard erwacht, und es ist immer noch Juni. Es ist der Tag des heiligen Veit, ein kleiner Feuerfalter flattert lebhaft zwischen den hoch aufgeschossenen, dürren Blüten des Sauerampfers herum. Die Gänse beißen nach ihren Jungen, der Farn entfaltet junge Triebe entlang der Mauer.
Es ist mehr als fünf Jahre her, dass sie außerhalb des Klosters war. Mehr als fünf Jahre, dass sie den Goldschmied bei Trier aufsuchte und danach lahm und krank wurde, weil sie zunächst Gottes Willen nicht gehorchen wollte. Jetzt sieht es so aus, als höre Abt Kuno ebenfalls auf Gott. Seit sie damals aus dem Krankenbett aufstand, ist sie jeden Mittwoch nach der Terz denselben Weg von der Frauenklause zum Arbeitszimmer des Abts gegangen. Mittwochs lässt der Abt seinen Sekretär und seinen Diener andernorts arbeiten, während er zusammen mit dem Prior die Arbeit im Kloster inspiziert. Unterdessen lässt er Hildegard und Volmar heimlich in seinem Arbeitszimmer tätig sein, das war die Lösung, die er sich hatte einfallen lassen. Hildegard ist gestärkt, sie liegt jetzt nur noch selten mit Fieber danieder. Der Abt entgeht auf diese Weise ihren aufrührerischen Anklagen und der Prior schöpft entgegen jeder vernünftigen Annahme bislang keinen Verdacht.
Anfangs wollte Hildegards Euphorie kein Ende nehmen. Der Abt gab seinen Segen, alle die Offenbarungen, die sie gehabt hatte und zukünftig noch haben werde, niederschreiben zu dürfen. Sie war ein Adler und ein Falke, der ohne blind zu werden in die Sonne starren konnte. Die Worte des Herrn sprudelten aus ihr heraus und verwandelten sich in Tinte. Mit der Zeit hat die erste nervöse Freude tausend wechselnde Stimmungen angenommen, ein Fischernetz, aus dem sie mit Volmars Hilfe alle Arten von glänzenden und springlebendigen Fischen herauslöst.
Fischschuppen, Fischhaut, Kiemen. Wer kann frei atmen, wenn die Anordnung zu schweigen von einer neuen Anordnung abgelöst wird: Geheimhaltung um jeden Preis? Zu Beginn war es kein Problem. Damals war sie voller Dankbarkeit gegenüber dem Abt, der nach nichts fragte, sondern ihr und Volmar einfach sein Arbeitszimmer zur Verfügung stellte. Wenn Hildegard an die Tür klopft, ist es Volmar, der öffnet. Sie sitzt in dem niedrigen Stuhl oder steht neben ihm. Er steht am Schreibpult mit dem Rücken zum Fenster, das Tageslicht fällt schräg auf das Pergament. Sie arbeiten nur, wenn das Tageslicht es zulässt. Volmars Augen ermüden inzwischen schnell, sie tränen, und er macht Fehler. Dennoch ist es undenkbar, dass jemand anderer den Kiel führt. Nur der, dessen Seele in die ihre gewachsen ist, kann ihre Worte als Bilder sehen, ihre Gedanken als Sätze lesen. Sie kritzelt in rasender Hast Worte auf die Wachstafel. Währenddessen arbeitet er an einer Skizze des Bildes, das sie ihm in der vorigen
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