Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Barbarei kämpft, bestärkt sie nur in ihrem Wunsch, ihm zu schreiben. Sie spricht davon, welche Ehre es sein würde, ihn zum Disibodenberg einzuladen und ihm begegnen zu dürfen.
Sie verbrennt sich die Zunge am Fastenbrei, sie denkt an das Heilige Land und an das Kreuz, das unter glühender Sonne siegen soll, an Asche und Sand, die den Himmel weiß erstrahlen lassen, die christlichen Herzen entzünden. Sie denkt an einen Frieden so flüchtig wie die Freude, an den Tod, der im grauenFeuer des Lichts lauert. Mitten in einem Gespräch mit Margreth und Agatha hält sie inne, sie denkt an Spuren von Pferdehufen in schwarzer Humuserde, einen Reiter im Galopp, der einen wichtigen Brief in seiner Tasche hat, und plötzlich steht sie auf. Die Schwestern bleiben mit geneigten Köpfen sitzen, haben Angst vor Hildegards Wut, Angst davor, etwas Falsches gesagt zu haben. Aber Hildegard geht einfach, ohne ein Wort zu sagen.
»Ich werde einen Brief an Bernard von Clairvaux schreiben«, wiederholt sie gegenüber Volmar. »Wenn du mir nicht hilfst, tue ich es selbst.«
»Aber der Abt …«, versucht Volmar zaghaft.
»Ich werde dafür sorgen, dass er rechtzeitig informiert wird«, sagt sie schnell.
»Vor oder nachdem er abgeschickt wird?«
»Er wird zur rechten Zeit informiert!«
»Das wird ihm nicht gefallen.«
»Was wissen wir davon? Und was weißt du schon, was ich Bernard schreiben will?«
Volmar willigt ein. Er würde lieber weiter an der Feuerzunge des Drachen in dem Bild malen, das Hildegards Vision vom Satan illustriert, der die Menschen verführt, indem er sie glauben lässt, er existiere nicht. Hildegard kann seine Gedanken lesen, wird einen Augenblick milde gestimmt.
»Hab Dank für deine Treue«, sagt sie und deutet nickend auf das Bild. »Du wirst sehen, dass du all diese Bögen nicht vergebens bebildert hast. Du wirst sehen, dass Gott uns beide für unsere Geduld belohnen wird.«
Sie schreibt: Ehrwürdiger Vater Bernard . Sie schreibt: Du, der du brennst in der Liebe zu Gottes Sohn, schreibt, ich flehe dich an: Beim strahlenden Licht des Vaters, bei seinem wundervollen Wort, bei dem heiligen Klang, von dem alles Geschaffene widerhallt, bei dem Wort, aus dem die ganze Welt erschaffen wurde, beim höchsten Vater, der durch seine liebliche grüne Kraft das Wort in den Leib der Jungfrau gesandt hat, wo es zu Fleisch und Blut wurde wie der Honig in der Bienenwabe.
Sie fleht demütig um sein Verständnis. Sie vertraut sich ihm an, schreibt, sie weine vor Kummer, weil Gerede und Entzweiung sie zum Schweigen gezwungen haben, sodass sie sich nur Volmar und dem Abt anvertrauen könne. Seit sie ein Kind war, habe sie wunderbare Dinge gesehen, die für das gewöhnliche Auge nicht sichtbar seien. So habe sie Erklärungen der Psalmen und Evangelien empfangen, die ihr Herz und ihre Seele mit der tiefsten Einsicht berührt haben. Seit ihrer Kindheit habe sie sich nicht einen einzigen Augenblick sicher gefühlt. Sie bittet ihn aus ganzem Herzen zu sagen, was sie tun soll: Soll sie stillschweigen oder soll sie sprechen? Jedes Mal, wenn sie schweigt, straft der Herr sie mit Krankheit, aber sie vertraut nicht auf ihre eigene Urteilskraft.
Du, schreibt sie, bist nicht wankelmütig, wie ich es bin.
Du erhebst die ganze Welt zum Heil!
Du bist der Adler, der in die Sonne starrt.
Volmar liest die Worte auf der Wachstafel mehrere Male durch. Seine Wangen werden heiß, füllen sich mit einem unbestimmten Gefühl, das sowohl an Angst als auch an Erwartung erinnert. Er fragt sie nicht länger, ob sie sicher sei, dass es klug ist. Er fühlt sich plötzlich nicht wie ihr Lehrer, eher wie ihr langsamer Schüler, der sich einzig und allein auf die milde Geduld seines Meisters verlassen muss. Er liest den Abschnitt über die Bienenwabe mehrere Male. Er bekommt Atemnot und muss sich hinsetzen. Besorgt schenkt Hildegard Bier für ihn ein und reicht ihm den Becher. Sie fragt ihn nicht nach seiner Meinung, sie wartet, ohne eine Miene zu verziehen. Süßeschwerer und goldener Honig, das unruhige Summen der Bienen. Er lehnt sich über das Schreibpult, er streicht über das Pergament, obwohl es bereits glatt ist. Er tunkt den Kiel in die dunkle Tinte, sein Wille ist nicht länger sein Eigen.
12
Der Prior schätzt seine Mittwoche mit dem Abt. Obwohl sie viele Dinge unterschiedlich sehen, weiß er Kunos ruhige Art, zu den Brüdern zu sprechen, inzwischen zu schätzen, und er genießt es, den Vorratskeller zu sehen, die
Weitere Kostenlose Bücher