Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
zwischen ihre Hände genommen, sobald sie alleine waren. Sie hatte geflüstert, ihre Augen hätten sich brennend danach gesehnt, das Gesicht ihrer Tochter zu sehen, und dass sie nur wünschte, sie hätte sie für den Rest ihres Lebens an ihrer Seite. Richardis vermisst ihre Aufmerksamkeit. Sie erfüllt ihre Pflichten und vertieft sich ins Gebet. Sie weiß, dass Hildegard zusammen mit Volmar im Haus des Abts schreibt, und wenn Hildegard wie umnebelt und abwesend ist, erwärmt sie sich daran, dass keine der anderen Schwestern es weiß.
Hildegards Blick geht durch die verfaulten Äpfel in Richardis' Händen hindurch, sie sieht direkt auf die Knöchel des Mädchens. Der säuerliche Geruch singt wie ein Chor Grashüpfer. Erde und Wein und Schimmel, sie muss wieder hinaus in die frische Luft. Richardis geht mit schleppenden Schritten, ein irritierender, schnarrender Laut. Hildegard fährt herum, um sie zurechtzuweisen, erkennt im selben Moment, dass es sinnlos ist, und fächert sich stattdessen mit der Hand Luft ins Gesicht. Sie schwitzt, geht die Treppe hinauf, denkt an Tinte und Pergament, fürchtet und sehnt sich danach, dass es wieder Mittwoch wird.
»Im Tod«, sagt sie unvermittelt und dreht sich zu Richardis um, die sie erstaunt anstarrt, »erst da wird sich zeigen, ob die Kämpfe, die man gekämpft hat, nutzlos gewesen sind, ob sie der Sünde oder der Frömmigkeit entsprungen sind.«
11
Hildegard hat von Bernard von Clairvaux gehört, ist ihm aber nie begegnet. Sie weiß, dass er einer der frömmsten Männer auf Erden ist. Eines Nachts träumt sie von ihm. Er steht auf einem Felsen und starrt direkt in die Sonne, ohne zu blinzeln. In dem Traum sitzt Drutwin zu seiner Rechten und isst an seinem Tisch. Als sie aufwacht, ist sie erleichtert und bedauert es gleichzeitig.
Volmar liest ab und zu aus Bernards Schriften für sie. Er will die Einfachheit und Strenge wieder einführen, auf die der Benediktinerorden ursprünglich gegründet war. Bernard leitet einen Zisterzienserorden, und von dem Kloster in Clairvaux aus, in dem er Abt ist, wettert er gegen die Fehlinterpretationen der heiligen Schriften und spricht davon, das Klosterwesen zu reformieren. Manchmal sind seine Worte so scharf, dass sie wie ein Skalpell durch Hildegards Gedanken schneiden und sie zerteilen. Ein Mönch auf der Durchreise hat Volmar von der Osterpredigt erzählt, die Bernard in Vézelay in Frankreich in diesem Jahr gehalten hat. Unter den Gemeindemitgliedern saßen Ludwig VII . von Frankreich, seine Gemahlin Eleonor von Aquitanien und andere vornehme Leute. Sie waren aufmerksame Zuhörer, als Bernard auf Veranlassung von Papst Eugen III . darüber predigte, noch einen Kreuzzug zu unternehmen. Pilger sind nach Hause zurückgekehrt und haben den Hilferuf der Christen in Syrien mitgebracht. Edessa ist in die Hände der Ungläubigen gefallen, Hilfe ist dringend nötig. Die vornehmen Leute in der Kirche von Vézelay warfen sich sogleich vor Bernard auf die Knie und schworen, das Kreuz tragen zu wollen. Sogar Eleonor, die obendrein auch noch Mutter eines kleinen Kindes ist, bestand darauf, mitzureiten. Der deutsch-römische Kaiser Konrad III . soll das heilige Heer nach Konstantinopel führen.
Hildegard hört zu und denkt, es ist ein Zeichen, das sie noch nicht richtig deuten kann. Der Erste Kreuzzug fand in dem Jahr statt, in dem sie geboren wurde. Jetzt bricht der Zweite Kreuzzug ins Heilige Land auf, während sie sich stärker als je zuvor nach etwas sehnt, für das sie keine Worte hat.
Volmar erschrickt, als sie einen Brief an Bernard von Clairvaux schreiben will. Er lehnt es rundweg ab. Bernard hat wichtigere Dinge, um die er sich kümmern muss, als Briefe von Hildegard entgegenzunehmen, sagt er scharf. Volmar hat gehört, dass Bernards Zisterzienserbruder Radulf ins Rheinland gekommen ist und gegen die Juden predigt. Obwohl Bernard wünscht, der Kreuzzug möge das Heidentum in aller Welt ausrotten, strebt er doch nach Frieden. So ist er Radulf spornstreichs nachgeeilt, um ihn dazu zu bringen, mit seinen hasserfüllten Worten einzuhalten. In Köln versuchten Christen, den Rabbiner Simeon zu zwingen, die heilige Taufe entgegenzunehmen. Als der sich weigerte, enthaupteten sie ihn kurzerhand. Andernorts durchbohrten die Kreuzritter einem Rabbiner Hände und Füße, um ihm Christi Leiden und Schmerzen in Erinnerung zu rufen. Hildegard ist darüber erfreut, dass Bernard gegen die Metzeleien wettert. Dass er aufrichtig gegen die
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