Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
fest, hält und hält, bis die Knochen weiß werden und die Finger pochen. Ihr Bett ist die Zelle der Bienenkönigin, die voller Süße durch die Dunkelheit fliegt. Ihre Worte werden wie Honig über die Menschen fließen und sie näher zu Gott führen. Alles, was sie erlitten hat, soll einen Weg öffnen so breit wie ein Meer. Das Einzige, was sie tun muss, ist niederzuschreiben und zu verkünden. Und der Herr hätte ihr keine schwerere Aufgabe auferlegen können.
Hildegard steht zur Matutin auf, als sei nichts geschehen. Sie erzählt ihren Schwestern nicht von den Erlebnissen im Kloster bei Trier. Nur als sie und Richardis nach der Terz gemeinsam zum Infirmarium gehen, berichtet sie von der Werkstatt des Goldschmieds. Richardis' Gesicht leuchtet, und ihre Begeisterung erfüllt Hildegard mit Freude.
»Du sollst die erste Krone haben«, sagt sie und bereut ihre Sünde im selben Moment.
Richardis sieht sie ernst an. Dann lacht sie. Es ist ein Regen aus Opalen und Perlen, und Hildegard wünscht, das Gefühl möge niemals aufhören.
»Du sollst die Erste sein, geradeso wie alle deine Jungfrauenschwestern«, fügt sie mit so leiser Stimme hinzu, als sie das Infirmarium betreten, dass Richardis sie unmöglich hören kann.
Volmar beobachtet sie. Er sieht ihr an, dass da immer noch etwas ist, das sie plagt. Er horcht auf ihre Stimme, als sie Richardis instruiert, und hört die leise Verzweiflung, die sich unter ihre alltäglichen Worte schlängelt. Er wartet darauf, dass sie nach der Arbeit zu ihm kommt, aber er wartet vergeblich. Die folgenden Tage bekommt er sie ebenfalls nicht zu sehen und denkt, dass sie nach der Reise wohl nur müde war und er sich geirrt hat.
Erst fünf Tage nach ihrer Rückkehr schickt sie nach ihm. Elisabeth klopft an seine Tür und redet zusammenhanglos von Lähmung und Blindheit. Er bekommt Angst und eilt Elisabeth hinterher, das Licht ihrer Lampe tanzt vor ihren Füßen, doch da, wo er hintritt, ist es dunkel. Hildegard sagte einmal, ihre Seelen seien in der Mitte zusammengewachsen, und er meinte, es klinge wie die Rede des Teufels. Jetzt fühlt er es stärker als jemals zuvor. Ihre Seele durchdringt die Klostermauer und verschmilzt mit seiner.
Sie weint, als sie seine Stimme hört. Sie schickt alle weg und klammert sich an seine Hand. Er hebt das Licht, um ihr Gesicht sehen zu können, ihre Pupillen flackern wild in ihren Augen. Es kam ganz plötzlich. Sie hatte einen starken Antrieb verspürt, während der Mahlzeit aus der Benediktusregel zu lesen, obwohl das normalerweise nicht sie, sondern eine andere der Schwestern macht. Nach der Hälfte des Textes war es, als fließe Wasser über ihre Augen. Zunächst war es nicht unangenehm, und sie fuhr mit der Lesung fort. Bevor sie fertig war, begann es zu jucken und zu brennen, und das Wasser wurde zu einem Nebel, in dem sie nicht mehr klar sehen konnte. Sie hielt es für Müdigkeit, denn das Licht war schlecht, aber dann legte sich diese heftige Erschöpfung über sie. Sie kippte zur Seite, als sie vom Lesepult heruntertreten wollte, und die Schwestern mussten sie ins Bett tragen. Es ist, als habe sich das Gewicht ihres Körpers um ein Tausendfaches erhöht, als seien ihre Knochen aus brennendem Blei. Sie weint vor Schmerzen und vor Angst. Volmar weiß nicht, was er tun soll. Er kniet neben dem Bett, und seine Gebete lassen sie zur Ruhe kommen.
»Es gibt keine größere Sünde, als sich von Gott abzuwenden«, flüstert sie, und er nickt, ohne etwas zu sagen.
»Ich kann nur den Umriss deines Gesichts sehen«, jammert sie, »deine Augen sind wie die Spuren zweier Pfoten im Schnee, nichts anderes.«
Er versucht, sie zu beruhigen. Sagt, er habe gespürt, dass die Reise eine unzumutbare Anstrengung für sie war und dass sie nicht vergessen darf, dass sie niemals robust war.
Sie schüttelt heftig den Kopf. »Ich bin eine Sünderin, verstehst du das nicht? Ich verbringe meine Tage im Gebet, verschließe aber meine Ohren vor den Worten des Herrn«, weint sie.
Er versteht nicht, was sie meint. Sie solle versuchen zu schlafen und wieder zu Kräften zu kommen.
»Gott hat sich mir gezeigt«, sagt sie und versucht, sich aufzusetzen. Sie zittert vor Anstrengung. »Er sagte, ich solle schreiben und verkünden, Volmar, aber ich will nichts hören davon. Er straft mich für meinen Ungehorsam. Er macht mich erhaben mit seiner Gegenwart, er nimmt all mein Leiden auf sich, und ich kehre ihm den Rücken zu. Was für ein Mensch bin ich nur, Volmar? Was für
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