Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Woche beschrieben und über das er seitdem meditiert hat. Dann liest er das, was sie geschrieben hat, fragt nach dem, was er nicht versteht, und berichtigt ihre holprige Grammatik, bevor er anfängt, es mit Tinte aufzuschreiben.
Die eine Woche ist Hildegard munter, sie hüpft herum wie ein Hase, und Volmar wird von ihrer energischen Freunde angesteckt. Sie zeigt auf seine tintenbefleckten Hände, nennt ihn ihr kleines, fleckiges Lamm. Die nächste Woche kann sie plötzlich still und mutlos sein.
»Ich bin alt«, sagt sie zu Volmar und fummelt eine Haarlocke unter dem Schleier hervor. Es ist nicht mehr rotblond, sondern beinahe weiß.
»Ich bin älter als du, Hildegard«, hält er dagegen, »ich bin fünfundfünfzig Jahre alt.«
»Warum schreiben wir die Worte Gottes nieder, wenn es doch nur du und ich und der Abt sind, die sie zu sehen bekommen? Sie sind bereits in meine Seele eingeritzt, und du erinnerst dich ohnehin an alles, was ich zu dir sage. Diese unermüdliche Arbeit ergibt ja doch keinen Sinn.«
»Gott hat einen Plan, in den er uns nicht einweiht«, antwortet Volmar. Er weiß keine bessere Antwort. »Dass es einen Sinn ergibt, ist das Einzige, das wir mit Sicherheit wissen.«
»Wir sind beide alt«, sagt sie. »Soll es wirklich so sein? Hat Gott so erhabene Gedanken über uns, dass er uns allein seine Herrlichkeit offenbart? Dass er mich seine Stimme hören lässt, nur damit ich darüber wachen möge, wie ein wohlhabender Mann seinen Schrein bewacht?«
Volmar beugt sich über das Schreibpult und koloriert sorgfältig Kreis um Kreis, die einander umgeben, die neun Engelchöre, ein Rad aus Rot und Gold und Blau und Weiß.
»Den mittleren Kreis darfst du nicht kolorieren«, sagt Hildegard und zeigt darauf. Ihre Hand ist voller Sommersprossen, ihre Fingernägel sind kurz und rissig.
»Soll ich ihn in Weiß malen?«, fragt er und richtet sich auf, um das Bild mit etwas Abstand zu betrachten.
»Er soll überhaupt nicht koloriert werden«, sagt sie, »das Pergament soll bleiben, wie es ist.« Sie seufzt und schüttelt den Kopf.
»Ich kann so nicht weitermachen«, flüstert sie. Sie steht am Fenster, versperrt dem Licht den Weg und wirft einen Schatten ins Zimmer.
Volmar zeichnet die Heiligenscheine der äußeren Engel mit schwarzer Tinte. Er lässt sie dem scharfen Kreis folgen, sodass bei einigen Engeln der Heiligenschein in der Mitte durchschnitten wird.
»All diese Engel werden vom Winde vorangetragen wie brennende Fackeln«, flüstert er, ohne sich zu ihr umzudrehen.
» Des Meeres Lobgesang bedeutet des Schöpfungswerkes Lobgesang von Mensch und Engel …«, fährt sie fort. »Vielleicht bin nur ich es, Volmar? Eine Frau hat die Pflicht, zu schweigen und Gott anzubeten in Demut und Stummheit. Eine Frau muss sich einordnen, dem Herrn fügen und ihm in Stille dienen. Zu glauben heißt, Gottes Willen gehorsam zu folgen, Volmar! Bin ich es? Ist es meine sündige Natur, die bewirkt, dass ich nicht gehorsam sein kann? Ist es nur meine Eitelkeit, die mich den Gedanken nicht ertragen lässt, dass niemand diese Herrlichkeit Gottes zu sehen bekommt? Sieh die Schönheit, Volmar, sieh Gottes Lobpreis in allem, was du zeichnest und tust. Wenn wir es sehen, erfreut es uns gleichermaßen, und dennoch zerspringt mein Herz vor Kummer.«
Hildegard geht zwischen den Frauen, ohne sie richtig zu sehen. Sie ist sehr gewissenhaft mit ihren Pflichten, denkt daran, wie flüchtig der Frieden ist. Im Oktober entdecken sie, dass in fast allen Äpfeln, die sie für den Winter eingelagert haben, Würmer sind. Schwarze Stiche, braune Druckstellen. Sie steht im Keller und stiert auf die Äpfel. Richardis hält ihr eine Hand voll verdorbener Früchte vors Gesicht, und sie reagiert kaum. Sie zuckt nur mit den Schultern, sagt: »Solange es nicht die Trauben sind.« Richardis nickt, sie versteht Hildegard nicht, die manchmal wegen Kleinigkeiten aus der Haut fährt, andere Male wirkt, als gehe sie nichts etwas an. Einmal, als sie auf dem Weg ins Infirmarium waren, blieb Hildegard mitten auf dem Pfad mit geschlossenen Augen stehen. Richardis wagte nicht, sie anzusprechen, also blieb sie direkt neben ihr stehen.
»Edler Adler, schwächliches Lamm«, hatte Hildegard geflüstert, »umarme mich, denn mein Körper und mein Blut gehören dir.« Als sie die Augen öffnete, sah sie Richardis mit einem Blick an, der sie gleichzeitig stolz machte und beschämte.
Damals, als sie aus Trier zurückgekommen war, hatte sie Richardis' Gesicht
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