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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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Gott kommen, von jemandem auf den rechten Pfad geleitet werden, dessen Namen sie nicht einmal kennen? Warum sollten die Gottlosen sich etwas anderes vorstellen, als dass es mein Hauptanliegen ist, wohlhabende Jungfrauen in mein Kloster zu rufen? Ein jeder weiß, dass sich in den Klöstern das Gold häuft, während die Moral verfällt. Du, Hildegard, wirst in den Augen einiger zu einem Teil dieses Verfalls. Andere suchen nach einer rettenden Erscheinung in der Welt. Die Mutter, die ihre Kinder verliert, ist willens, an was auch immer zu glauben, um sie zurückzubekommen. Der reuige Sünder sucht nach einem Schlupfloch ins Paradies und glaubt, er habe es gefunden, wenn er den Zipfel deines Umhangs berührt. Immer wieder treten auch falsche Propheten unter den Leuten auf, und oft können dann nicht einmal mehr Kirchenleute trennen zwischen dem, was von Gott stammt, und dem, was Satans Blendwerk ist. Wie sollten gewöhnliche Menschen also eine Chance haben? Die Leute reden über dich, Hildegard, und du selbst trägst einen Teil der Schuld. Das Einzige, was ich wünsche, ist, dich zu beschützen, wie ich meine anderen Kinder beschütze. Begreifst du das nicht?«
    »Der Schuld?« Hildegard kommt auf die Beine. »Wenn ich schuldig bin an dem, so verstehe ich nicht wie. In dieser Angelegenheit beschützt Unwissenheit mich nicht, sie macht mich nur noch dümmer.«
    »Schweigen beschützt dich«, sagt der Abt kühl. »Und das ist das Einzige, das ich dir jemals abverlangt habe. Ich verstehe nicht, warum dieses Opfer schwerer für dich zu erbringen sein sollte als für andere. Hättest du nur von Anfang an geschwiegen, wäre nichts von alldem geschehen.«
    »Wie soll ich schweigen können, wenn Gott zu mir spricht?«, fragt sie aufgebracht. »Es ist eine Sünde, die Worte Gottes zu überhören, und nur Warnungen und Dinge von äußerster Wichtigkeit sind jemals an dein Ohr gedrungen, Abt. Dinge, von denen ich mir nicht vorstellen kann, dass du gewünscht hättest, ich solle sie alleine tragen.«
    Der Abt wendet ihr den Rücken zu. Er nickt mehrere Male, als ob er mit sich selbst rede.
    »Du hast recht, Hildegard«, sagt er. »Aber mein Glaube oder meine Meinung überzeugen anscheinend niemanden.«
 

 

9
      
Die Schwestern haben sich nach der Komplet wach gehalten, um Hildegard in Empfang zu nehmen, als sei sie monatelang weg gewesen. Sie selbst wünscht, in diesem Augenblick für die Welt unsichtbar zu sein. Sie weicht ihren Blicken und den entgegengestreckten Händen aus und sucht Zuflucht in ihrer Kammer, um zu schlafen. Ihr ist schwindelig, sie lässt das Licht brennen. Eine Schar Läuse wandert durch ihren Blick, vervielfältigt sich zu Haufen, strömt über Wände und Decke, sodass sie die Finger hart auf die Augen pressen muss, damit das Flimmern verschwindet. Hinter den geschlossenen Augen tanzt es gelb und orange. Sie schickte Ewald von Echternach weg, schalt ihn aus und zeigte auf all die Kranken und Leidenden, die größeren Kummer hatten als er. Er hätte sich schämen sollen, wurde aber stattdessen wütend. Die Flüche eines jungen Adligen treffen sie nicht, sie schließt ihn in ihr Gebet mit ein.
    »›Vergeltet nicht Böses mit Bösem oder Scheltwort mit Scheltwort, sondern segnet vielmehr, weil ihr dazu berufen seid, daß ihr den Segen ererbt‹«, flüstert sie. Das Licht flackert, als ginge ein Wind durch den Raum, die Flamme verlischt, die Dunkelheit um sie herum ist dicht und lebendig. Dann flammt das Feuer wieder auf, steht gerade am Docht, zieht lange, schwarze Schatten vom Bett bis zum Stuhl über die Wand.
    »Du hast mir das Leben und die Stimme gegeben«, flüstert sie. Es prickelt auf ihrem Gesicht. »Lehre mich, sie nach deinem Willen zu gebrauchen.«
    Es fühlt sich an, als zerbreche etwas in einem ihrer Augen, aber da ist kein Schmerz. Einem leisen Knall folgt das Licht, das tausendmal stärker ist als die Sonne. Sie wartet darauf, was sie sehen wird. Sie lauscht, aber lange kann sie nur ihre eigenen Atemzüge hören. Dann geht ein Ruf durch die Kammer und durch das Fleisch: »Du schwächlicher Mensch, du Staub und vergängliche Asche: Verkünde und schreibe nieder, was du siehst und hörst. Schreibe nicht nach deinem eigenen oder anderer Menschen Gutdünken, sondern so, wie es Sein Wille ist. Er, der alles weiß, alles sieht und alles lenkt.«
    Die Stimme und das Licht verschwinden gleichzeitig. Nichts bleibt zurück. Nur der Krampf im Fleisch. Sie hält mit beiden Händen an der Matratze

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