Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
fort.
Hildegard schüttelt den Kopf.
»Wenn Gott mir gebietet, die Reise zu unternehmen, so gibt er mir die Stärke«, sagt sie. Die Tränen laufen ihr immer noch über die Wangen.
»Stärke?« Der Abt beginnt zu lachen. »Warum in aller Welt kommst du dann in dieser unbeherrschten Art hier hereingefahren?«
Volmar legt die Hand an ihre Stirn, aber sie rückt von ihm weg und steht auf.
»Weil …«, sie zittert vor Wut. Schließt die Augen, um Kontrolle über ihre Atemzüge zu gewinnen. Sie presst die Hände vors Gesicht.
Lange sagt keiner von ihnen etwas. Ein Stuhl schabt kratzend über den Boden, der Diener des Abts geht auf der anderen Seite der Tür vorbei.
»Da waren überall Menschen«, flüstert sie dann.
»Was hast du erwartet? Es ist ein enorm großes Kloster, und Trier ist eine große Stadt, Hildegard!« Der Abt zuckt mit den Schultern und blickt Volmar fragend an.
»Ich habe erwartet, dass dort sowohl Tiere als auch Menschen sein würden, ehrwürdiger Vater«, sagt sie leise, »aber ich habe nicht erwartet, dass sie meinen Namen kennen, und schon gar nicht, dass sie mich Mutter Hildegard und die Sibylle des Rheins nennen.« Sie hält inne und sieht Volmar verzweifelt an. »Sie kamen mit ihren Kindern und glaubten, ich könne sie vorKrankheit und Tod erretten. Sie kamen mit Sünden und Seelenleid und baten mich um Weissagungen. Ein junger Herr aus Echternach klopfte früh morgens an meine Tür, um mich um Rat in weltlichen Angelegenheiten zu fragen«, sagt sie. »Sie kannten meinen Namen, Volmar, hörst du? Sie kannten meinen Namen!« Sie lehnt sich gegen die Wand und verstummt.
»Hildegard, du musst dich nach der Reise erst einmal ausruhen«, versucht Volmar.
»Aber zuerst soll der Abt mir erklären, warum sie meinen Namen kannten«, antwortet sie störrisch.
Der Abt steht auf. »Ich habe dir unzählige Male gesagt, dass Gerüchte über dich umgehen, Hildegard, und ich weiß, dass Volmar dir das auch gesagt hat. Wir haben schon davon gesprochen, als Margreth damals ins Kloster kam. Du kannst nicht behaupten, dass ich es dir verheimlicht hätte. Obwohl es dem Prior nicht gefällt, dass du es weißt, hörst du wohl auch, dass die Kranken im Infirmarium nach dir fragen, und du weißt genug über Geografie, um zu verstehen, dass sie nicht allesamt aus der unmittelbaren Umgegend des Disibodenbergs kommen«, antwortet er.
»Gerüchte«, flüstert sie, »ihr habt von Gerüchten gesprochen, aber nie von solchen Ausmaßen! Ein wenig boshaftes Gerede unter den Brüdern mit schwacher Seele, dumme, naive Gerüchte über magische Fähigkeiten, aber nicht das hier! Jutta hatte Pilger, sie pflegte der Sündigen Gemüt, aber ich pflege nur die Kranken.« Sie rutscht an der Wand herunter bis in die Hocke. Volmar versucht, sie wieder hoch auf die Beine zu ziehen.
»Mir ist schwindelig und ich bin müde«, flüstert sie. »Das ist alles. Ich bin voller Kummer über die Unwissenheit und das Leid der Menschen. Ich weine darüber, wie sich die Menschen gegen Gott versündigen, der seinen Sohn für uns am Kreuz sterben ließ. Ich bin verzweifelt darüber, dass mein eigener Abt mir den vollen Umfang der Wahrheit vorenthalten und mich daran gehindert hat, das Meinige zu tun, die wahnwitzigen Gerüchte aufzuhalten, ich sei eine lebende Heilige.«
»Begreifst du nichts, Hildegard?«, knurrt der Abt. »Begreifst du nicht, dass ich nur versuche, dich zu beschützen? Dass der Prior zu Recht und in Übereinstimmung mit dem, was du selbst gerade gesagt hast, fordert, dass du keine Pilger empfängst, weil wir alle gleich sind, und kein Mensch über den anderen erhoben werden soll? Du weißt sehr wohl, dass die Brüder, denen es nicht gefällt, von Frauen umgeben zu sein, sagen, es sei falsch, dass ihr überhaupt hier seid, und dass nur du und Jutta damals willkommen geheißen wurden. Sie fürchten, dass sich der moralische Verfall Disibodenbergs ankündigte, als Margreth ins Kloster kam. Ihr Gerede kann ich im Zaum halten, Hildegard. Sie sind gehorsam und fromm, sie wünschen, Gott näher zu kommen. Die, die den Mund nicht halten können, kann ich fortschicken, die anderen kann ich entweder an deine Frömmigkeit oder an die Mitgiften der Adelstöchter erinnern. Aber außerhalb dieses Klosters haben meine Worte keine Macht. In den Augen der gewöhnlichen Leute ist Disibodenberg dein Kloster, ich bin irgendein Abt, und der Prior existiert überhaupt nicht. Wie sollten diejenigen, die nicht daran glauben, dass deine Worte von
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