Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
Vom Netzwerk:
das Bündel in Volmars Armen, »möchte ich mit euch sprechen.«
    Der Abt stöhnt, der Prior ändert die Haltung, draußen laufen die Gänse lärmend über die Wiese.
    Erst als sie ihm zum dritten Mal ein Zeichen gegeben hat, reagiert Volmar und packt das Bündel vorsichtig aus. Die schlimmsten Ahnungen des Abts bewahrheiten sich. Behutsam legt Volmar den ersten Stoß beschriebener Bögen auf den Tisch. Dann wickelt er den Stoff von einem ganz dünnen Stapel und enthüllt drei Bögen, auf denen der Text von kunstfertigen Illustrationen flankiert wird. Er legt sie einen nach dem anderen oben auf den Stoß der übrigen Bögen und tritt einen Schritt zurück. Der Prior ist sprachlos. Er beugt sich über den Tisch, um die Bilder zu studieren. Etwas Ähnliches hat er nie zuvor gesehen. Auf dem ersten Bild sitzt eine schwarz gekleidete Nonne in einer detaillierten und faltenreichen Tracht, die deutlich die Umrisse ihrer Beine erkennen lässt. Sie hält eine Wachstafel und einen Griffel in der Hand, ihre Hände sind schmal und hell, ihre Finger lang und elegant. Sie sitzt unter einem Halbbogen, einen Turm an jeder Seite, sie hat große, weit geöffnete Augen, ihre Stirn ist halb von Flammen bedeckt, die genau bis zur Deckenwölbung gehen. Rechts von ihr steckt ein buckliger und bärtiger Mönch den Kopf durch eine Öffnung in der Wand. Er ist kleiner als die Nonne, es sieht aus, als schwebe er über der Erde, von unsichtbaren Kräften gehalten. Er hält einen Pergamentbogen fest und sieht die Frau mit seinen milden Augen aufmerksam an.
    »Das ist …«, beginnt der Prior und gerät ins Stocken.
    »Das ist Volmars Werk«, sagt Hildegard schnell, »keiner kann Bilder schöner erschaffen als er.«
    »Volmar?« Der Prior blickt auf. Sieht von Hildegard zu Volmar und wieder zurück. Der Schweiß läuft in kleinen Bächen Volmars Hals hinunter.
    »Ja, es ist verblüffend, nicht wahr?«, fährt Hildegard fort. »Seht die Einzelheiten, seht den Stoff, ja selbst die Einzelheiten im Gürtel des Mönchs hat er gezeichnet.«
    Der Prior starrt auf die Bilder. Dann schiebt er den Stuhl vom Tisch zurück und steht ungestüm auf. Auch der Abt steht auf. Er streckt die Hände nach seinem Prior aus, der vor Wut glühendrot anläuft.
    »Nein, keiner erschafft Bilder wie Volmar«, wiederholt Hildegard nachdenklich, »abgesehen vom Herrn.«
    Der Prior erstarrt. Der Abt legt eine Hand auf seinen Arm, um ihn zurückzuhalten.
    »Dem Herrn?«, schnaubt er. »Dass du es wagst, den Herrn in diese Sünde hineinzuziehen.«
    »Wie könnte ich es unterlassen«, sagt Hildegard sanft. »Er ist es und kein anderer, der mir das gezeigt hat, was wir alle nun zu sehen bekommen.«
    Der Prior reißt sich vom Griff des Abts los. Er geht auf Hildegard zu, besinnt sich, als er wenige Schritte von ihr entfernt ist, dreht um, schlägt mit der Faust auf den Tisch.
    »Vor fünf Jahren hatte ich eine Offenbarung, in der Gott sagte, ich solle niederschreiben, was er mir gezeigt hat. Seitdem haben Volmar und ich uns jeden Mittwoch hier im Arbeitszimmer des Abts getroffen, um zu schreiben.«
    »Du?« Der Prior zeigt auf den Abt, der sich zusammenkrümmt, als habe er die Leitung des Klosters bereits abgegeben.
    Volmar setzt sich. Er nestelt an den Bögen herum, seine Hände zittern.
    »Du musst verstehen, lieber Prior, es war niemals meine Absicht, dass diese Worte anderen als Hildegard und Volmar vor Augen kommen sollten. Solange wir die Schriften hier im Kloster verstecken, ist es an dem Herrn, Hildegard zu strafen oder zu belohnen«, sagt der Abt unruhig.
    Der Prior starrt auf die Bögen. Auf einem der Bilder umkränzt eine Borte ein himmelblaues Feld. In dem Feld ist ein weißer Kreis, der einen kleineren roten und gelben Kreis umgibt. Mitten in dem Bild steht eine saphirblaue Gestalt, die Handflächen dem Betrachter zugewandt. Sowohl seine Tracht als auch seine Haut haben die gleiche blaue Farbe, nur sein langes, wallendes Haar ist schwarz.
    »Oh, ja. Das ist die Dreieinigkeit«, sagt Hildegard und folgt dem Blick des Priors, »und Gottes mütterliche Liebe.« Sie zeigt auf das blaue Feld. »Das mütterliche Meer.«
    »Sie müssen vernichtet werden«, sagt der Prior, »Niemand darf diese entsetzlichen Bilder sehen.«
    Der Abt steht immer noch da. Drei rote Streifen laufen von seinem Kiefer zur Kutte, so heftig hat er sich am Hals gekratzt.
    »Das geht nicht an«, sagt er mit brüchiger Stimme. »Du selbst kennst Hildegards Frömmigkeit und weißt, dass niemand sie je

Weitere Kostenlose Bücher