Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Weberei, die Weinberge, Ställe, Scheune und Tenne. Er legt Wert darauf, die Abrechnung über den Zehnten der Dorfbauern durchzugehen, auf das gründliche Zählen, wenn die Listen des Kellermeisters inspiziert werden. Große Veränderungen von Woche zu Woche sind nicht festzustellen, das Jahr geht seinen immer gleichen Gang.
Es ist August, mitten in der arbeitsreichsten Zeit des Jahres. Die Trauben werden größer und duften süßlich, der Geruch von Hopfen und Thymian strömt einem aus dem Kräutergarten entgegen. In diesem Jahr haben sie zum ersten Mal Flachs angepflanzt. Der Prior hatte so entschieden, obwohl die meisten meinen, es sei nutzlos. Flachs darf nicht wie Wein gepflanzt werden, sagen sie, die Erde ist hier nicht fruchtbar genug. Aber er träumt davon, Flachs nicht länger von auswärts importierenzu müssen. Sowohl er als auch der Abt teilen die Hoffnung, dass sich das Kloster mit der Zeit vollständig selbst versorgen kann. Jeden Tag sieht er nach den Flachspflanzen. Sobald die Samenkapseln anfangen, sich gelb zu färben, müssen die Pflanzen abgeerntet werden, damit man sicher sein kann, den feinen Faden zu bekommen, der für die Altartücher gebraucht wird. Wartet man zu lange, wird die Faser brüchig und grob. Darum ärgert es ihn, als der Abt ihn nach der Terz zu sich ruft und auffordert, ihn zu begleiten. Hildegard hat darum gebeten, mit ihnen beiden sprechen zu dürfen, sie und Volmar warten bereits im Arbeitszimmer des Abts. Die letzten fünf Jahre hat sie sich einigermaßen ruhig verhalten. Dennoch nagt es bei jedem feierlichen Hochamt an ihm, sie und die Schwestern in Seide und Gold gekleidet in der Kirche zu sehen. Er beugt den Nacken und schweigt. Er will keinen Unfrieden schaffen, und außerdem hatte es die beabsichtigte Wirkung, den Einfällen der verrückten Frau zu folgen: Sie ist seitdem sehr viel umgänglicher und zurückhaltender als früher. Nur ganz vereinzelt geriet das Kloster in Aufruhr, weil sie den einen oder anderen vor diesem und jenem gewarnt hatte. Selbst die frommsten Brüder werden dumm wie Schafe, wenn sie von der Zukunft spricht. Sie lauschen verschreckt und stumm und tun, was sie sagt. Der Prior versteht nicht, wie sie eine solche Macht über Menschen besitzen kann, aber er sagt nichts. Ab und zu beichtet er beim Abt seine Wut und seinen Ungehorsam, aber irgendwo auf dem Grunde seiner Seele rechtfertigt er sein Misstrauen gegenüber Hildegard mit seiner gesunden Vernunft und der Hingabe an den Herrn.
Anstatt selbst zu gehen, muss er ein paar der Brüder schicken, um nach den Flachspflanzen zu sehen, und das stört ihn. Der Bereich, den sie bepflanzt haben, ist so klein, dass es keingewaltiger Verlust ist, wenn der Versuch misslingt. Aber es würde ihn doch freuen zu beweisen, dass er recht hatte. Die Brüder scheinen unaufmerksam dreinzublicken, als er sie instruiert, und es passiert ihm, dass er die Stimme auf eine Art hebt, über die er sich hinterher ärgert. Die Sonne brennt, aber die Luft ist feucht. Flachspflanzen sind anspruchslos; als sie blühten, bewegten sich die zarten, blauen Blüten wie Schmetterlingsflügel und fielen bei dem kleinsten Windstoß zur Erde. Sämtliche Blüten hielten nicht einmal einen ganzen Tag, aber als die ersten blauen Blätter die Erde bedeckten, standen neue Blumen in voller Blüte.
Hildegard sieht gesund und munter aus. Wie gewöhnlich fragt sie den Prior nach seiner Gesundheit. Sie fragt auch nach den Flachspflanzen und ob sie ihn begleiten und sie sehen dürfe, bevor sie abgeerntet werden. Sie finde, es sei eine glänzende Idee, und er weiß nicht, was er antworten soll.
Der Abt wirkt nervös und ungeduldig. Weder Hildegard noch Volmar haben ihn davon in Kenntnis gesetzt, worüber sie sprechen wollen, und er befürchtet das Schlimmste. Er ist froh über die Lösung mit den heimlichen Mittwochen, dennoch kommt es ab und zu vor, dass er voller Sorge über die Zukunft aufwacht. Sollte jemand ihr Tun entdecken, würde eine Spaltung durch sein Kloster gehen.
Volmar hält ein Stoffbündel in den Armen. Hildegard hat etwas Leichtes, beinahe Mädchenhaftes an sich, während sie sich mit dem Prior über seine albernen Flachspflanzen unterhält.
Der Prior und der Abt setzen sich in die niedrigen, gepolsterten Stühle. Volmar bleibt neben Hildegard stehen, er blickt zu Boden, sogar hier in dem kühlen, aus Stein gemauerten Raum glänzt sein Gesicht vor Schweiß.
»Über dies hier, ehrwürdiger Vater«, sagt Hildegard und zeigt auf
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