Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Gesundheit, aber Volmar spürt sofort, dass er etwas anderes auf dem Herzen hat.
»Bernard von Clairvaux nimmt an der Synode in Trier teil, wo Papst Eugen III . und alle hochrangigen Geistlichen aus demganzen Land versammelt sind. Er hat nach mir geschickt, damit ich dabei sein kann, wenn Hildegards Manuskript vorgelegt und besprochen wird. Hat Hildegard irgendeine Vorahnung, wie es verlaufen wird?«, fragt er und sieht Volmar forschend an.
Volmar nickt, sagt aber nichts. Der Abt bleibt stehen, verlagert das Körpergewicht von einem Fuß auf den anderen. Er schlägt die Kapuze hoch, und ein Schaudern durchläuft ihn. Er fragt nicht noch einmal.
Der Abt steht kurz vorm Morgengrauen auf. Volmar ist erleichtert darüber, dass er ihn nicht bittet, ihn auf der Reise zu begleiten, sondern nur den Prior und einen Laienbruder mitnimmt. Die Beschäftigung im Kloster lenkt ihn ab, und da Hildegard das Bett wieder verlassen hat, kann er sie nicht länger unter dem Vorwand aufsuchen, nach seiner Patientin sehen zu müssen. In der Kirche vermeidet er, sie anzusehen, ins Infirmarium kommt sie in diesen Tagen nicht. Es ergibt keinen Sinn, miteinander zu sprechen, wenn die Gedanken voller Angst und Fragen sind, die niemand am Disibodenberg beantworten kann.
Eine Woche nach der Abreise des Abts kommt Richardis zum Infirmarium. Es verstößt gegen die Regeln, dass sie alleine kommt, und Volmar ist gezwungen, sie zu tadeln.
»Ich weiß es sehr wohl«, sagt sie, »aber Mutter Hildegard hat mich geschickt.«
Es fühlt sich an, als habe ihm jemand einen Schlag auf die Brust versetzt, er bekommt kaum noch Luft.
»Ja?«
»Sie bittet mich, Hustensirup zu holen, da drei von unseren Schwestern von nächtlichem Husten schlimm mitgenommen sind.«
»Hustensirup?«
Richardis nickt. Sie hat Fischaugen und einen Himbeermund.
Wortlos gibt Volmar ihr, worum sie bittet. Sie wartet vor der Tür des Infirmariums, während er die Flasche versiegelt.
Sie zittert vor Kälte, als er zurückkommt.
»Hildegard muss die Regeln befolgen wie alle anderen und darf dich nicht alleine hierherschicken«, sagt er und wird von der Strenge in seiner Stimme überrascht. »Nur wenn sie an einer Krankheit leidet und nicht imstande ist, sich zu bewegen, darfst du alleine kommen, und in diesem Fall auch nur, um nach mir oder dem Abt zu schicken.«
Richardis neigt den Kopf. Ihre Wangen färben sich rot vor Wut über seinen herablassenden Tonfall.
»Ist das verstanden?«
»Mutter Hildegard hat ein Schweigegelübde abgelegt, bis der Abt von der Synode zurück ist«, sagt sie und hebt den Kopf. Sie kneift den Mund zusammen und sieht ihn weiter an.
»Und dennoch kann sie dir Anweisungen geben?«
»Sie gab Zeichen … es ist … die Schwestern sollen wohl nicht wissen …« Richardis zuckt mit den Schultern. In ihrem Blick ist etwas Trotziges.
Volmar hebt die Hand wie einer, der ein ungehorsames Kind schlagen will. Richardis weicht einen Schritt zurück. Er lässt die Hand sinken, das Herz hämmert, er dreht ihr den Rücken zu und schlägt die Tür zum Infirmarium mit einem Krachen zu.
Danach ist er verzweifelt. Sowohl der Abt als auch Hildegard preisen ihn für sein ruhiges Gemüt, aber nun kann er weder seine Wut noch seine Unruhe im Zaum halten. Er hatte Lust, die Hand durch die Luft fahren zu lassen und Richardis direkt insGesicht zu schlagen. Es lag ein dreister Trotz in der Art, auf die sie ihn anstarrte. Und Hildegard schickte sie, anstatt selbst zu kommen, obwohl sie gar nicht krank ist und sich ihm auch ohne Worte verständlich machen könnte. Der Zweifel nagt an ihm. Vielleicht sagte Richardis nicht die Wahrheit, vielleicht hatte Hildegard sie gebeten zu lügen, weil sie ihm nicht in die Augen sehen will. Vielleicht hatte sie eine Offenbarung, die ihr gezeigt hat, sie solle ihn nicht länger als ihren Vertrauten ansehen, sondern sich auf ihre Schwestern konzentrieren? Vielleicht ist sie wütend auf ihn, weil er etwas Falsches gesagt hat, während des Verhörs durch die Delegation oder als er an ihrem Krankenlager saß und versuchte sie zu trösten? Nirgendwo kann er Ruhe finden, die Wärme und die Ausdünstungen der kranken Körper machen die Luft erstickend dick. Er stürzt zur Tür hinaus. Die Kälte reißt in seinem Hals und in der Kehle, drückt ihm Tränen in die Augen. Mit hastigen Schritten geht er die Pfade im Kräutergarten entlang. Zitronenmelisse und Löwenohr sind in sich zusammengefallen, versengt vom Frost. Es rauscht in den Kronen
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