Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Clairvaux, und letzten Mittwoch, als ihr draußen nach den Weinstöcken gesehen habt, kam ein reitender Bote und lieferte einen Brief ab. Volmar hat ihn entgegengenommen, nicht wahr, Volmar?«
Volmar richtet sich auf und nickt. Er kann sich nicht erklären, warum sie ihn in diese Sache so ausdrücklich hineinzieht und damit riskiert, dass er Ärger bekommt.
»Ich habe den Brief hier«, lächelt sie und zieht ihn aus den Falten ihrer Tracht. »Er ist ganz kurz, denn er schreibt, dass er in diesen ereignisreichen und schweren Stunden keine Zeit für eine längere Antwort erübrigen kann. Das Wichtigste steht hier …« Sie kneift die Augen zusammen und fixiert die wenigen Zeilen. » Du hast eine Gnadengabe erhalten, die du demütig und mit größtem Eifer annehmen musst . Er schreibt auch, dass er sich selbst nicht als den besten Berater in solchen Angelegenheiten ansieht, da sein Wissen gering ist«, sie lacht kurz auf und sieht die drei Männer vielsagend an. Dass Bernard von Clairvaux es wagt, in einem Brief an Hildegard sein Wissen als gering zu bezeichnen, bedeutet offensichtlich, dass er ihren Brief schätzt und überzeugt ist, dass das, was sie hört, von Gott kommt.
Der Prior ist weit davon entfernt, zufrieden zu sein, aber er beruhigt sich ein wenig, als Ende Oktober ein Brief vom Erzbischof ankommt. Er hat an Papst Eugen III . geschrieben, der durch ein glückliches Zusammentreffen gerade im Rheinland ist, um in Trier an einer Synode teilzunehmen, und daher in derLage war, schnell zu antworten. Der Papst hat den Erzbischof gebeten, dafür zu sorgen, dass eine Delegation hochrangiger Geistlicher zum Disibodenberg geschickt wird, um eine gründliche Untersuchung der Verhältnisse vorzunehmen. Es wird erwartet, dass Hildegard selbst zur Verfügung steht und auf deren Fragen antwortet, aber das Wichtigste ist, dass dem Komitee von allem, was sie mit Volmars Hilfe geschrieben hat, Zeugnis vorgelegt wird.
Es freut den Prior, dass sowohl der Erzbischof als auch der Papst prompt reagiert haben. Abt Kuno ist unruhiger als der Prior. Zeigt es sich, dass das Komitee Hildegards Schriften als ketzerisch und die Autorität des Papstes untergrabend beurteilt, ist kaum abzusehen, was die Konsequenzen sein werden. Natürlich wird Hildegard hart bestraft werden, aber da er nicht nur Kenntnis von den Schriften hatte, sondern selbst zu deren Entstehung beigetragen hat, wird er nicht ungeschoren davonkommen. Dass Bernard von Clairvaux Hildegards prophetische Gabe offenkundig ohne weiteres gutheißt, beweist nichts. Obwohl er fromm ist und streng, können ihn Hildegards verführerische Worte leicht genarrt haben. Unter allen Umständen wird er sich den Rücken freihalten können, indem er sagt, dass er zum einen nicht ein einziges Wort von Hildegards niedergeschriebenen Visionen gelesen und zum anderen genug damit zu tun habe, den Kreuzzug zu mobilisieren.
Der Abt wacht zwischen den Stundengebeten auf und sieht von Tag zu Tag mitgenommener aus. Schließlich verlangt er, Hildegards unvollkommenes Werk von der Bibliothek ausgehändigt zu bekommen. Anstatt sich des Nachts in seinem Bett zu wälzen und zu drehen, steht er auf und zündet ein Licht in seiner Kammer an. Er liest Seite um Seite von Hildegards Werk und studiert eingehend Volmars sonderbare Illustrationen. Zuerst ist er erschrocken über all das Wissen, das Hildegard zu besitzen scheint. Ihre Einsicht in theologische Themen wirkt sehr viel weitreichender als die irgendeines Mannes, dem er begegnet ist. Dass eine Frau so weise und umfassende Gedanken niemals selbstständig wird denken können, tröstet ihn. Dann gibt es keine andere Möglichkeit als die, der er die ganze Zeit zugeneigt war: Hildegard hört wirklich Gottes Stimme.
Ein paar Mal versucht er, mit dem Prior über das zu reden, was er liest. Aber der Prior weigert sich zuzuhören. Jedes Mal wiederholt er, dass er auf die Delegation warten und das Ganze bis dahin am liebsten vergessen will. Er beharrt darauf, so zu tun, als sei nichts vorgefallen. Er überhört Hildegards Wunsch, die Arbeit auf dem Flachsfeld zu begleiten, vollständig. Ohnehin ist dort nicht viel zu sehen. Die Ernte verlief nach Plan, die Garben trockneten im Wind, wie sie es sollten, und nun wurden sie auf die Erde gelegt, um sie im Tau einzuweichen.
13
Ende November schreien Raben und Krähen grau und schwarz. Der erste Nachtfrost zieht seinen weißen Schleier durch das Gras. Hildegard steht am Tor und sieht ihnen nach,
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