Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
bis sie verschwunden sind. Die Delegierten des Papstes waren fünf Tage am Disibodenberg. Jeden Nachmittag mussten sie und Volmar im Arbeitszimmer des Abts zusammen mit den Gesandten, dem Abt und dem Prior verbringen. Sie wollten wissen, ob Volmar etwas aus eigener Fantasie hinzugefügt habe, ob er Worte geändert habe oder Details in den Bildern. Sie haben ihn über den Charakter des Verhältnisses zwischen ihm und Hildegard ausgefragt, und er hatte mit ruhiger Stimme geantwortet. Zudieser Zeit des Jahres sucht das Ungeziefer Zuflucht in den Häusern, und während die Delegation jedes von Volmars Worten drehte und wendete wie ein Prisma, betrachtete Hildegard eine kleine Schar Spinnen, die sich über dem Fenster versammelt hatte. Ein Weberknecht stürzte zwischen Fensterrahmen und Decke hin und her, während sich die anderen in einem dichten, weißlichen Spinngewebe zu einem Klumpen zusammendrängten.
Scivias, wisse den Weg. Ja, auch der Titel hat sich in einer Vision offenbart. Nein, ich bin stets bei Bewusstsein. Nein, es ist nicht, als sei ich in Ekstase oder würde träumen, meine Augen und Ohren sind offen, ich höre Gottes Stimme, er hebt meinen Willen auf, ich bin eine Feder, die nur von seinem Atem bewegt wird. Ja, das ist nur der Anfang, das Werk ist noch nicht vollbracht, es werden insgesamt drei Teile: Die Zeit des Vaters, die Zeit des Sohnes, die Zeit des Heiligen Geistes, es ist Gottes Schöpfungswerk und sein Heilsplan. Ich habe den Erlöser gesehen, den neuen Adam, die Lichtgestalt besiegte den Tod, ich habe das Mysterium der Dreieinigkeit geschaut und Gottes feurige Kraft gespürt.
Jetzt verlassen sie das Kloster, und sie hat sie bis zum Tor begleitet. Das Gesicht des Anführers der Delegation verrät nichts, seine Augen sind aus Stein. Sie hat die Müdigkeit in den Tagen, in denen sie hier waren, nicht gespürt, aber jetzt ist es, als dringe sie mit der Kälte durch die Fußsohlen und bemächtige sich ihrer Gedanken und ihres Körpers. Richardis wartet im Innengarten auf sie. Sie hat lange dort gestanden, und sie zittert vor Kälte. Sie streckt Hildegard die Hand entgegen, aber sie nimmt sie nicht. Hildegard setzt sich auf die kalte Bank, Richardis setzt sich neben sie. Weder der Umhang noch der Schleier schützengegen den Wind, den die Abenddämmerung mit sich bringt. Hildegard schlägt die Arme um den Körper. Der Fluss rauscht, die Nacht sammelt ihr Heer aus dunklen Wolken.
»Wir entstehen im Wasser und verschwinden wie Wind«, flüstert Hildegard und legt ihre Hand über Richardis'. »Denk an das, was sich nie verändert, selbst wenn bald alles anders wird. Denk an die Jahreszeiten, die auf dieselbe Weise wechseln Jahr für Jahr, denk daran, dass, ganz gleich, wie oft man denselben Weg geht, der Fuß nie in genau dieselbe Spur treten kann.«
Richardis zögert. Hildegard spricht in Rätseln, und der Ernst in ihrer Stimme beunruhigt sie.
»Darf ich das Manuskript sehen?«, fragt sie ganz leise. Das hat sie lange schon gewollt, danach fragen, aber die Gelegenheit hat sich nicht geboten.
»Sie haben es mitgenommen«, antwortet Hildegard, ohne sie anzusehen. Sie hat Tränen in den Augen. »Wenn es zurückkehrt, wird sich die Welt verändert haben.«
Hildegard liegt den ganzen November und die meiste Zeit des Dezembers im Bett. So lange hält die Krankheit für gewöhnlich nicht an. Sie fragt Gott und sich selbst und Richardis und Volmar, womit sie die Wut des Herrn auf sich gezogen hat. Sämtliche Glieder tun ihr weh, kleine mit gelblichen Krusten überzogene Wunden breiten sich auf ihren Schenkeln aus. Sie ruft die Heiligen an, ruft ihre Mutter und ihren Vater, ruft nach Drutwin und Volmar, nach Benedikta und anderen, von denen Richardis nie gehört hat. Kurz vor Weihnachten wendet es sich zum Guten. Sie kann aufrecht im Bett sitzen und Suppe essen. Sie sieht klein und erschöpft aus, aber am Weihnachtstag wirkt sie beinahe munter.
»Jetzt bekommen wir bald Bescheid«, flüstert sie Volmar zu,als er kommt, um nach der Patientin zu sehen. »Das wird eine große Freude.«
Jetzt bekommen wir bald Bescheid! Was soll man mit so einer Aussage anfangen? Volmar ist außer sich vor Sorge, seit die Delegation abgereist ist. Gewiss hat Hildegards Krankheit seine Gedanken von den panischen Vorstellungen abgelenkt, der Ketzerei beschuldigt zu werden, aber jedes Mal, wenn sein Herz Ruhe gefunden hat, ist es, als ginge es Hildegard schlechter. Er hat versucht sich darauf vorzubereiten, dass er
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