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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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will den Blick niederschlagen, aber da ist etwas in seinen Augen, das sie aufsaugt, etwas Neckisches und gleichzeitig Freundliches. Dann nimmt er den Daumen weg, tätschelt ihr die Wange und hebt den Zeigefinger.
    »Hört«, sagt er laut und lässt seinen Blick durch den Saal wandern, bis alle schweigen. »Als ich zuletzt von Trier nach Sponheim ritt, kam ein altes Weib des Wegs. Sie war schlecht zu Fuß und schon so lange gewandert, dass sie kaum noch Haut an den Füßen hatte. Ich bot dem Weibsbild an, auf meinem Pferd zu reiten. Sie wog nichts und war so dünn, dass sie leicht vor mir auf dem Tier Platz fand. Im Gegenzug sollte sie mich und meine Männer ein Stück der Reise mit Geschichten unterhalten.« Der Herzog hebt die Hand, um das unter den Zuhörern aufkommende Gelächter zu unterbinden, und versichert ihnen, die Geschichte sei wahr. »›Geschichten kenne ich keine als die von Christus, unser aller Erlöser‹, antwortete die Alte frommen Herzens. ›Doch kann ich vielleicht den gnädigen Herrn um die Antwort auf ein Rätsel fragen, über das ich lange gegrübelt habe.‹« Wieder hält der Herzog inne, beugt sich vor zu Hildegard und fragt sie, ob er aufhören soll. Sie schüttelt den Kopf so heftig, dass er lacht und sie auf beide Wangen tätschelt.
    »Nun denn«, fährt er fort. »Ich forderte sie auf, von dem Rätsel zu sprechen. ›Gut‹, sagte die Alte.« Der Herzog nickt nach rechts und nach links, während er die Stimme einer alten Frau nachahmt. Gebannt von der Geschichte vergisst Hildegard zu weinen. »Mein Haus ist nicht still, doch ich sage keinen Laut. Mein Heim ist sicher wie kein zweites. Von Zeit zu Zeit ruhe ich, doch meine Wohnstatt läuft allzeit. Dort wohne ich, solange ich lebe, denn ohne mein Haus, so hat Gott es bestimmt, muss ich sterben.« Der Herzog reißt die Augen auf, dass sie kugelrund werden. Er legt eine Hand hinter jedes Ohr und sieht sich fragend um. »Nun«, fragt er, »wer kann erraten, wovon die Rede ist?«
    »Eine Schnecke«, ruft ein bartloser Knappe, während er selbstsicher den Becher hebt.
    Der Herzog wedelt mit dem Zeigefinger in der Luft. »Wohl versucht, mein Freund, doch ein Schneckenhaus läuft nicht, und dies ist also nicht die richtige Antwort.«
    »Der Atem?«, versucht sich Ursula, und alle lachen.
    »Noch besser«, sagt der Herzog, »doch wer unter allen Kriegern und Kindesmüttern würde es wagen, den menschlichen Körper ein Haus so sicher wie kein zweites zu nennen?« Er lacht und lässt ein unsichtbares Schwert die Luft zerteilen.
    »Ein Fisch«, sagt Hildegard. Sie sitzt aufrecht in Mechthilds Schoß und zupft den Herzog am Ärmel.
    »Was sagst du?« Der Herzog reißt den Mund weit auf, als ob sie ihn erschreckt habe.
    »Ein Fisch«, wiederholt sie, »es ist ein Fisch.«
    Der Herzog legt beide Hände um Mechthilds Gesicht und zieht sie an sich, sodass Hildegard beinahe von ihrem Schoß auf den Boden rutscht. Er küsst Mechthild auf die Stirn und danach küsst er Hildegard direkt auf den Mund. Sie wischt sich die Lippen mit der Rückseite der Hand ab, wischt einen sauren und alten Geruch weg. Mechthild weiß nicht, ob sie lachen oder weinen soll. Sie lächelt steif, hebt aber doch die Hand und winkt Agnes, zum Langtisch zu kommen. Agnes eilt herbei und greift nach Hildegard, die mehr als gerne ins Bett will, aber der Herzog schubst sie zur Seite und legt eine Hand auf Mechthilds Arm.
    »Das Kind vergnügt mich«, sagt er und leert seinen Becher, »so lasst es doch sitzen.«
    Mechthild antwortet nicht, sie späht durch den Saal. Hildebert ist auf dem Weg zurück zu seinem Platz, er schwankt.
    Der Herzog hebt seinen Becher in Hildeberts Richtung und lobt Hildegards Klugheit, so dass Hildebert mit der Faust auf einen der Tische schlägt und zustimmt, sein jüngstes Kind sei das gescheiteste. Dann fährt er herum und schaut über den Saal. Sein Blick fällt auf Drutwin, der immer noch mit den jüngeren Knappen redet, die ihm inzwischen gröbere Worte an den Kopf werfen als zuvor und ihn schubsen, ohne dass er sich beklagt.
    »Hildegard ist klug«, ruft er und zeigt mit der einen Hand auf seine Tochter, »Drutwin ist ein Weib oder ein Mönch«, sagt er und zeigt mit der anderen in Drutwins Richtung. Es wird still am Langtisch.
    »Was tut ein Mönch an meinem Hof?«, ruft der Herzog und versetzt Hildebert einen leichten Schlag gegen die Schulter, fast nur ein Klaps. Ursula kichert deutlich hörbar.
    »Du bist sehr großzügig der Kirche gegenüber«, sagt

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