Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Haut an Clementias Händen ist dünn geschliffen vom Salzstoßen für das Trockensalzen. Irmengard und Odilia schlagen Butter, bis sie Blasen an den Händen haben. Benedikta bessert Laken und Leinen aus, Hildegard muss Garn und Nadeln bereitlegen und zur Hand gehen, wo sie kann. Drutwin und Hugo gehen mit Hildebert auf die Jagd und bringen Hirsche, Rebhühner und Tauben mit nach Hause. Es müssen jede Menge Speisen zubereitet, die Wandteppiche ausgeklopft und wieder aufgehängt und die Gästezimmer hergerichtet werden. Hildebert muss seine Kammer für das Herzogspaar räumen, die Mädchen ziehen zusammen in einen Raum.
An dem Tag, an dem die Gäste erwartet werden, jagt Mechthild Hildebert und alle Kinder in die Wanne. Während die Mädchen darauf warten, als Letzte an die Reihe zu kommen, helfen sie Mechthild, für alle die Sachen bereitzulegen. Sie frieren, bevor sie endlich in die Wanne steigen können, stehen bleich und mit blauen Lippen vor dem Zuber und schubsen sich gegenseitig, um nach vorne zu kommen. Das Wasser ist noch warm, als sie dran sind. Die getrockneten Blütenblätter, die darin schwimmen, kleben am Körper und in den Haaren, und Hildegard läuft der Mund voll, als Clementia sie untertaucht. Agnes wartet mit einem Leinentuch, als sie wieder in die kalte Luft steigen muss. Sie klappert mit den Zähnen, und die anderen lachen sie aus. Der Rücken brennt warm und rot nach Mechthilds energischem Schrubben, aber die Haut ist nicht aufgescheuert wie an Clementias Schenkeln, die sie sich selbst mit Holzwolle und Seife abgerieben hat. Agnes hilft Hildegard in ihre Sachen, aber trotz leinenem Unterhemd und Wollkleid friert sie und muss sich an die Feuerstelle setzen, die Füße auf einem Schemel, damit die Wärme durch die Fußsohlen in ihren Körper gelangen kann. Agnes legt ihr eine Pelzstola um die Schultern, und sie streckt die Hände zum Feuer aus. Benedikta kämmt ihr Haar und zieht so heftig, dass Hildegard Tränen in die Augen schießen. Als sie nachher die Augen mit der Stola abwischt, kneift Clementia sie in die Backe und sagt, sie sei zart wie eine Blume. »Eine Flachsblume«, lacht Odilia und lässt die Hände durch die Luft flattern, um zu zeigen, wie der Flachs seine blauen Kronblätter nach wenigen Stunden abwirft. Hildegard antwortet nicht, reibt die Hände aneinander und tut so, als höre sie die Neckereien nicht. »Und dann ist nur der Stängel übrig«, sagt Odilia, die ihre kleine Schwester nicht so leicht davonkommen lassen will. Auch Mechthild lacht, sagt aber dann,kaum eine Pflanze sei so widerstandsfähig wie der Flachs, der sogar noch wächst, wenn der Boden schon Risse vor Trockenheit bekommt. Hildegard denkt an die Flachsfelder auf dem Weg nach Mainz, den engelblauen Flor über der Erde, flimmernd wie heiße Sommerluft. Aber Odilia bringt Irmengard dazu, mitzumachen. »Hildegard ist ein Flachsstängel, dürr und vertrocknet«, sagt sie. Stängel, Stängel, ärgern sie ihre kleine Schwester, und Mechthild tut, als bekäme sie nichts mit, während sie ihr kräftiges Haar flicht und mit einer goldenen Spange am Kopf befestigt. Stängel ist ein graubraunes und ekliges Wort, wie Holzwolle auf der Haut. Hildegard weiß, dass es nichts nützt, zu protestieren, also sieht sie stumm in die Flammen, bis ihre Augen trocken werden.
Bald vergessen Odilia und Irmengard die Sticheleien, denn die Kleider werden geholt. Hildegard freut sich, genau wie ihre Schwestern, über die glatte, kühle Seide, den üppigen, farbenfrohen Stoff, der so ruhig über den Körper fällt. Hildegard muss das Wollkleid darunter anbehalten, damit sie nicht friert. Dadurch füllt sie das Kleid aus und sieht ausnahmsweise beinahe gut genährt und gesund aus.
Spät am Nachmittag taucht das Gefolge aus dem Wald auf. Hildegard und Hugo haben die Erlaubnis bekommen, zu der Wache im Turm hinaufzusteigen und Ausschau zu halten. Sie stehen auf einem Steinblock unter dem Fensterloch und schauen über die Felder. In dem Moment, in dem das erste Pferd am Waldrand erscheint, hebt eine Schar Vögel von der schwarzen Erde ab. Die Federn schimmern silbern, bevor sie über den Wald davonfliegen und hinter den Baumwipfeln verschwinden. Über dem Wald leuchtet der Himmel rot und gelb, die Stämme spucken Pferde und Wagen aus, die Stille wird von Hufschlag und knirschenden Rädern zerbrochen. Hugo brüllt vorBegeisterung, ruft etwas zu den Menschen auf dem Hofplatz, springt die Treppe hinunter wie ein Hase. Hildegard bleibt stehen,
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