Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
sieht dem Gefolge zu, wie es sich über das Feld schlängelt. Die einzelnen Gesichter zu erkennen ist noch unmöglich. Die großen Tiere zertreten den Raureif und zerwühlen die Furchen.
Auf dem Hofplatz herrschen Lärm und Tumult. Genauso klein, wie die Pferde von Hildegards und Hugos Ausguck ausgesehen haben, genauso gewaltig wirken sie, wenn sie sich innerhalb der Mauer mit grauen Locken aus Atemluft vor den Nüstern zusammendrängen. Schaumflocken tropfen aus ihren Mäulern und hängen am Zaumzeug. Hildebert klopft seinen Gästen auf den Rücken, verbeugt sich vor der Herzogin und lacht. Mit gesenktem Blick machen Mechthild und die ältesten Mädchen einen Knicks. Währenddessen springt Hugo zwischen den Pferden herum, bis der Stallmeister ihm mit einem Tritt den rechten Abstand zu den großen Tieren beibringt.
Hildegard steht mit dem Rücken zum Küchenhaus und hält sich die Ohren zu. Niemand bemerkt sie hier. Sie schiebt sich an der Wand entlang bis zur Tür. Die Luft im Küchenhaus ist dick von Qualm und Rauch, aus dem irgendwo das rot glänzende Gesicht des Kochs auftaucht, wie ein Stein, den man über dunkles Wasser hüpfen lässt. Es wird geschuftet, mit hochgekrempelten Ärmeln und Locken, die sich befreien und mit der Rückseite klebriger Hände hinters Ohr gestrichen werden. Es duftet nach Gewürzen, Mandelmilch, Honig und Bratenfett, sodass man allein schon vom Atmen satt wird. Ganz nah an der Tür macht sich ein Küchenjunge, der nicht viel älter ist als Hildegard, mit beiden Händen in einem Lehmfass voller Milch und getrockneten Brombeeren zu schaffen. Seine Hände und Arme sind lila und rot gestreift. Er sieht konzentriert undmissmutig drein, während er die Beeren auspresst und mit der Milch verrührt.
Hildegard schleicht tiefer in das Halbdunkel, gibt sich Mühe, nicht im Weg zu sein. Trotz der Betriebsamkeit ist es hier friedlicher als draußen, hier drinnen gehört jeder Laut an einen bestimmten Platz. Die platschenden Hände des Jungen in der Milch, das siedende Öl, in dem die Pasteten baden, der große Spatel, der über den Boden des Bottichs kratzt und wetzt. Dennoch wird es ihr zu viel, die Augen brennen, der Geruch kommt von überall her, gräbt Gänge unter die Geräusche und lässt sie in einem einzigen großen, unordentlichen Haufen zusammenstürzen. Hildegard will hinunter zum Stall und zu den Kühen, läuft wieder nach draußen auf den beinahe entvölkerten Hofplatz, wo die Erde matschig und von Füßen und Hufen zerstampft ist. Bevor sie den Stall erreicht, packt Agnes sie im Genick und zerrt sie an den Haaren mit sich.
Im Speisesaal flackern Fackeln und Lampen, der Lärm aus Stimmen und Geräuschen steigt zusammen mit Rauch und Dunst wie wallender Nebel zur Decke hinauf. Dem Eingang gegenüber sitzen Hildebert und Mechthild, Tante Ursula, Onkel Kuntz und die feinen Leute an einem etwas erhöhten Langtisch. Der Herzog ist ein kräftiger Mann mit lauter Stimme, pechschwarzem Haar und olivenfarbener Haut. Er hat seinen Mantel über die Bank gelegt und hämmert die ganze Zeit mit geballter Faust auf den Tisch, obwohl er nicht wütend ist. Die Herzogin ist ebenso kräftig gebaut wie ihr Mann, an ihrem kurzen, breiten Hals baumelt ein mit Steinen besetztes Kreuz aus Gold. Sie flüstert ihrem Tischherrn etwas zu, der sich vorbeugt und Mechthild, die auf der anderen Seite sitzt, einen Wink gibt.
Die Kinder sitzen an den Tischen verteilt, die dem Langtischam nächsten stehen. Agnes und Estrid und der alte Meister Otto halten sich in der Nähe. Hildegard und Drutwin sitzen nebeneinander, am anderen Ende ihrer Tischreihe lärmt eine Horde Knappen. Die Schatten tanzen unruhig auf den Wandteppichen, Dienstmädchen öffnen und schließen den Mund, ohne dass man hören könnte, was sie sagen. Cousine Kristin sitzt etwas von Hildegard entfernt, aber jedes Mal, wenn sich ihre Blicke begegnen, ist es, als sehe Kristin sie überhaupt nicht.
Drutwin kennt einige der Männer aus Sponheim. Sie ziehen ihn ein wenig auf, doch er lacht nur entwaffnend, anstatt es ihnen mit gleicher Münze zurückzuzahlen. Hildegard versucht, den Gesprächen der Erwachsenen zu folgen, aber die Worte treiben von ihr weg. Kristin hat Soße an der Unterlippe, bemerkt es aber nicht, bevor ihr Tischherr sich vorbeugt und sie mit einer kurzen Handbewegung entfernt. Sie errötet und lacht. Hildegard isst, bis es unter den Rippen spannt, und als die mit Farce gefüllten Wachteln hereingetragen werden, kann sie kaum noch die
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