Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
hindurchgezwängt haben, so wie der Frost in seinem Fell hängt. Es hat scharfe Krallen, die leicht an Hildegards Hals kratzen. Aber da ist nichts, wovor sie Angst haben müsste. Es liegt ganz still, atmet warm und feucht gegen ihr Kinn, es will sich nur ein wenig aufwärmen. Auch mit offenen Augen kann sie das Tier nicht sehen. Es ist noch lange bis zum Morgengrauen. Das Tier ist ein zitterndes Bündel auf ihrer Brust. Sie bebt unter seinem Gewicht, und das Tier bebt mit ihr. Es ist schwer, unter einem solchen Gewicht zu atmen. Das Tier bewegt sich auf und ab im Takt ihrer Atemzüge. Wenn sie jemanden ruft, wird das Tier Angst bekommen. Es kann ein fremdes Tier sein, ein Tier aus den Wäldern oder den Bergen oder vielleicht sogar vom Fluss. Ein Tier, das sich wie das Einhorn stets vor den Menschen versteckt und nur hervorkommt, weil es Winter geworden ist und es nur noch schwer Nahrung findet.
Wird es auf meiner Brust sterben? Ist es den ganzen Weg gekommen, um einen guten Platz zum Sterben zu finden?
Es ist nicht das Tier selbst, das ihr Angst macht. Angst macht ihr vielmehr, dass es weiterhin so kalt bleibt. Es saugt Wärme aus ihrem Körper, und sie friert nicht nur dort, wo es liegt. DieKälte breitet sich entlang der Rippen aus, bis zur Hüfte und ihren Beinen.
Es ist ein Tier, denkt Hildegard, nur ein Tier . Aber sie ist jetzt wacher, es ist unnatürlich, dass ein Tier den Weg in ein Haus aus Stein findet, mitten in der Nacht, dass es sich auf einen schlafenden Kinderkörper legt, schwer und still. Jetzt hat die Kälte ihre Füße erreicht, es ist, als sei jeder einzelne Zeh aus Eis.
Hildegard will schreien, aber das Tier drückt so schwer auf ihre Brust, dass sie keinen Laut über ihre Lippen bekommt. Sie will ihre Schwestern oder Agnes rufen, die in Unwissenheit neben der Feuerstelle schnarcht. Sie mögen die Glut anfachen, ein Licht anzünden und das Tier fortscheuchen, aber es kommt kein Laut. Sie kann es auch nicht von sich abwälzen. Jedes Mal, wenn sie versucht, die Finger unter das Tier zu schieben, faucht es leise auf eine sonderbare röchelnde Art und reckt seine Krallen, dass es ihr am Hals weh tut. In der Dunkelheit kann sie kreideweiße Zähne in dem Bündel erahnen; vielleicht wird es zubeißen, ohne zu verstehen, dass sie ihm nichts Böses will.
Der kleine Hammer des Herzens. Ein dunkler und verzweifelter Gestank von Flusswasser in der Schlafkammer. Agnes, die wie tot bei der Feuerstelle liegt und nichts sieht. Hildegards Schwestern, die unter Bergen aus Kissen und Decken verschwunden sind. Ihre Stimme, die in der Kehle festklemmt. Krallen, Zähne, Fauchen. Sie weiß, dass sie sterben muss.
13
Agnes ist außer sich und stürzt mit Hildegard im Schlepptau in die kleine Stube. Sie hat das Mädchen fest am Oberarm gepackt, schüttelt sie, als sei sie eine Puppe. Es ist spät am Vormittag und die Gäste sind bereits aufgebrochen, aber das Kind ist immer noch nur im Unterhemd. Die dünnen weißen Beine stechen unter dem ungebleichten Stoff hervor.
Agnes bringt kein Wort über die Lippen, zeigt nur fortwährend auf das Kind. Gleichzeitig schiebt sie ihren Körper schützend vor sie, sodass Mechthild weder etwas sehen noch verstehen kann. Hildegard sieht nur vor sich hin, müde und noch ein kleines bisschen benommen davon, aus dem Bett und durch das kalte Haus gezogen worden zu sein. Mechthild steht auf und drängt Agnes zur Seite. Als das Kindermädchen seinen Griff um den Arm ihrer kleinen Gefangenen löst, erhält sie die Gabe der Rede in so reichem Maß zurück, dass die Worte sich überschlagen, sodass Hildegard lachen muss. Hinter Mechthilds Rücken hebt Agnes warnend die Hand, als wolle sie das Kind schlagen. Mechthild streichelt mit den Fingern über den Hals ihrer Tochter, den weichen, runden Fingern, die Hildegard liebt, sieht ernst und nachdenklich aus, zieht das Unterhemd zur Seite, um besser sehen zu können.
»So sah sie aus, als ich sie weckte«, keucht Agnes, »sie ist nicht von selbst aufgewacht, wie sie es für gewöhnlich tut, und ich fürchtete, das Fieber sei zurückgekehrt, Frau, und wollte nach ihr sehen, und so lag sie dann da.« Agnes lässt den Kopf seitlich auf die Schulter sinken und breitet die Arme aus, führt ein regelrechtes Theater hinter Mechthilds Rücken auf, die sich nicht umdreht und sie keines Blickes würdigt. »Ja, sie lag da wie eine Tote, sage ich«, fährt Agnes in dem gleichen, aufgebrachten Tonfall fort und lenkt endlich
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