Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Mechthilds Aufmerksamkeit auf sich.
Blitzschnell fährt sie auf dem Absatz herum und versetzt dem Kindermädchen eine Ohrfeige, die in der Luft nachhallt und einen deutlichen Abdruck ihrer Hand auf Agnes' Wange hinterlässt.
»Das war nicht gerecht«, sagt das Kind und sieht seiner Mutter in die Augen. Mechthild bekommt Lust, auch sie zu schlagen, zügelt sich aber und schickt stattdessen Agnes hinaus. Wie ein Kiebitz schwirrt Agnes davon. Hildegard sieht ihr nach, während Mechthild wieder mit den weichen Fingern über ihren Hals streichelt.
»Wie ist das passiert?«, fragt Mechthild.
Hildegard berührt ihren Hals, zieht das Kinn ein und sieht nach unten auf ihre Brust. Vier dicke, geschwollene, rötliche Striemen, die zur Mitte der Brust laufen, aber abbrechen, bevor sie zusammentreffen. Es sieht aus, als strahlten sie vom Anhänger des Herzogs aus. Es tut nicht weh, aber es überrascht sie. Ein paar Sekunden lang schließt sie die Augen, um sich genau erinnern zu können.
»Es war ein Tier«, sagt sie dann. »Und ich glaubte, ich müsse sterben.«
Die Kratzer sind oberflächlich, das ist es nicht, was Mechthild antreibt, im Speisesaal ruhelos auf und ab zu gehen, nachdem Hildegard zum Anziehen zurück in die Schlafkammer geschickt wurde. Dass sich das Kind im Schlaf kratzt, mag noch angehen, scheint sogar einleuchtend, besonders wenn es von einem unheimlichen Tier geträumt hat. Es ist mehr die vollkommene Selbstsicherheit, mit der sie behauptet, das Tier sei wirklich gewesen, und ihre unerschütterliche Ruhe, mit der sie ihreMutter zurechtwies und sagte, es sei nicht gerecht, dass sie, Mechthild, Agnes geschlagen hat. Gerechtigkeit! Was weiß ein Kind von sechs Jahren davon? Agnes' Gedanken sind flatterhaft, wechseln die Richtung hundert Mal an einem einzigen Tag, und gerät sie über irgendetwas in Rage, gehorcht ihr die Stimme nicht mehr. Mechthild kennt dann keine anderen Mittel, als das Mädchen zu ohrfeigen. Vielleicht ist Agnes gar nicht gut für Hildegard, denkt Mechthild und bleibt am Tisch stehen. Sie hält sich an der Tischplatte fest und kann doch keinen vernünftigen Grund dafür finden, dass es Agnes' närrisches Verhalten ist, das sie so aufbringt. Es ist das teuflische Tier, das sie plagt. Hartnäckig blieb Hildegard bei ihrer Behauptung, es sei da gewesen, beschrieb das Fell und die Zähne des Tieres und dass es sehr schwer gewesen sei. Die Male am Hals sehen tatsächlich so aus, als könnten sie von einem Tier stammen, und das Kind ist zu alt, um sich so etwas zusammenzufantasieren. Ein Tier? Über die Mauer, durch den Garten? Und Frost im Fell? Mechthild schlägt mit der Handfläche auf die Tischplatte und nimmt ihre rastlose Wanderung wieder auf. Sie hält die Lederschnur mit dem Anhänger, den sie dem Kind über den Kopf gezogen hat, immer noch in ihrer Hand. Manchmal könnte man glauben, das Mädchen sei verrückt, oder … Mechthild legt erschrocken eine Hand auf die Brust. Sie will so etwas nicht denken, nicht von ihrem eigenen Kind, will nicht denken, der Teufel habe etwas damit zu tun. Doch ihre Gedanken drehen sich wieder und wieder im Kreis.
Seit Hildegards Geburt hat sie ihre Pflichten als Eheweib erfüllt. Sie hat Hildebert abgewiesen, als sei er bereits tot und sie ins Kloster gegangen, wie viele Witwen es tun. Kann es wirklich sein, dass der Teufel dennoch freies Spiel hat? Als Hildegard noch ein Säugling war, dachte Mechthild, das kränklicheKind sei ein Zeichen Gottes an sie, nicht noch mehr Kinder zu bekommen. Dennoch wagte sie es nicht, sich darauf zu verlassen, Gott habe daran gedacht, ihr die Fähigkeit zu nehmen. Also blieb ihre Kammer für Hildebert verschlossen.
Mechthild bohrt die Fingernägel in die Schläfen. Die Gedanken springen hierhin und dorthin, Gesichter, von denen sie glaubte, sie habe sie vergessen, tauchen in einem Wirrwarr neben- und nacheinander auf – Mädchen, die ihnen im Laufe der Zeit gedient haben, der Küchenjunge, der im Fluss ertrank. Jedes Mal, wenn jemandem aus der Hauswirtschaft etwas zustieß, haben sie sie nachher angesehen, heimlich, aber sie hat es ganz deutlich gespürt.
Du musst tapfer und mutig sein, hatte ihre Mutter zu ihr gesagt, als sie frisch verheiratet und in Tränen aufgelöst von zu Hause wegging. Damals hatte sie gedacht, ein Feldherr sei mutig, ein Ritter tapfer. Aber sie war nur ein vierzehnjähriges Mädchen mit einem pelzgefütterten Mantel und einem Seidenkleid, aus dem Hildebert sie befreite, kaum dass sie
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