Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
so geblendet ist, dass er nicht sieht, wie schwächlich und merkwürdig sie ist.
Der Hund legt sich in die Sonne, den kleinen Kopf auf den gekreuzten Vorderbeinen. Vor dem Fenster ragt die Birke mit ihren prallen Knospen auf, die Äste wiegen sich im Wind. Zwei Zweige fangen ihre Aufmerksamkeit und halten sie fest, schwarz und nackt inmitten des Grüns. Es war alle Kraft, die der Baum hatte, denkt sie, er musste die Zweige unfruchtbar lassen. Es liegt eine Unruhe im Wiegen und Zittern des Baums, die sich zu ihr fortpflanzt, über den Fußboden aus Stein in alle ihre Glieder fährt. Sie geht hinüber zu dem anderen Fenster, die Füße klappern über den Boden. Die Läden sind nur halb geöffnet, und sie stößt sie auf. Todesmesse, denkt sie ohne zu wissen, woher der Gedanke stammt. Sie sieht ein Ölkreuz, gezeichnet über Augen und Mund, und ist entsetzt. Mit einer Hand greift sie sich an die Brust, um die Luft nach unten in ihre Lungen zu zwingen. Ganz unten an der Mauer, die den Garten umgibt, steht sie. Hildegard mit ihrem rötlichen Haar und ihrer durchsichtigen Haut. Sie trägt keine Schuhe, und sie hat die Hände und die Stirn an die ungleichmäßigen Steine der Mauer gelegt. Es sieht aus, als spreche sie mit der Mauer.
»Geh doch hinaus in die Sonne, närrisches Kind«, flüstert Mechthild so leise, dass Hildebert es nicht hören kann. Das Kind bleibt unbeweglich und stumpfsinnig im kalten Frühjahrsschatten stehen. Klein und schmächtig in dem grasgrünen Kleid vom letzten Herbst. Mechthild hatte es genäht, um stillschweigend zu feiern, dass ihr Kind einen ganzen Sommer über gesund geblieben war. Damals passte es ihr wie angegossen. Jetzt hängt es an ihr herunter. Feuchtigkeit hat sich im Rockfestgesetzt, er ist ganz dunkel. Da, wo sie gegangen ist, hat sich das Gras zu einem schmalen Pfad gebeugt. Mechthild hält es nicht aus und trotzt erneut der Schweigsamkeit, von der sie weiß, dass Hildebert sie während der Mittagstunde von ihr verlangt.
»Hildebert, ich habe Angst«, sagt sie und ringt die Hände. Sie will sich an den Tisch setzen und ruhig und vernünftig ihre Sache vortragen, wandert aber stattdessen hin und her über den steinernen Fußboden. Sie kann nicht am Fenster stehen bleiben und diese sonderbare Unbeweglichkeit des Kindes betrachten, und auch am Tisch kann sie nicht zur Ruhe kommen.
»Du machst dir zu viele Sorgen«, antwortet er. Aber sie spürt eine Unruhe in seiner Stimme, die ihr Fassung und Mut zurückgibt.
»Vor einer Woche noch war sie ans Bett gefesselt …« Sie setzt sich auf die Kante des Stuhls. »Wie oft habe ich nicht gedacht, es wäre besser um sie bestellt, würde der Herr sie sogleich zu sich rufen.« Das Letzte fügt sie mit so zerbrechlicher Stimme hinzu, dass ihr nachher selbst Zweifel kommen, ob ihr die Worte tatsächlich entwischt sind.
Hildebert antwortet nicht, sondern fängt wieder zu essen an. Sorgfältig schneidet er kleine Stücke von dem gesalzenen Fleisch mit dem Messer, das sie vor Jahren in Mainz von einem Handelsreisenden aus Venedig für ihn gekauft hat. Sie hatte das Messer mit einem Schaft aus weißem Knochen gekauft, um ihrem Mann eine Freude zu machen. Er hatte es auf seine ihm eigene, schroffe Art genommen und prüfend in seiner großen Hand gewogen, war mit dem Zeigefinger über die geschnitzten Pfauen und Blumenranken gefahren und hatte ohne ein Wort genickt. Dass er sich darüber immer noch freut, zeigt er,indem er es bei jeder einzelnen Mahlzeit benutzt. Es verschwindet in seiner Hand, und sie kann die Zurückweisung nicht ertragen.
»Wenn meine Tochter zu Erde und Staub werden soll«, ruft sie aufgebracht, »dann lass sie doch wenigstens zuvor dem Herrn nahe sein.«
Der Hund hebt den Kopf, blinzelt und schnüffelt einen Augenblick, bevor er sich wieder beruhigt.
»Also, wie lautet dein Vorschlag?«, fragt er ruhig.
»Ich habe an Jutta gedacht«, sagt sie und reibt mit dem Zeigefinger über den dunkelroten Stein an ihrem Ringfinger.
»Jutta?«, fragt er ungläubig, »Jutta von Sponheim? Sophias Tochter?«
»Ja«, sie wird wieder mutig. Sie hat es genau durchdacht, hat es so lebendig vor sich gesehen, als sei es schon in Erfüllung gegangen. Sie hat Hildegard in Juttas Obhut auf dem Besitz in Sponheim gesehen, der nicht so weit weg liegt, als dass sie ihre Tochter nicht besuchen könnte. Sie hat gesehen, wie Hildegard Jutta ins Kloster folgen wird, wenn sie in einigen Jahren ihre Gelübde ablegt, und wie Hildegard es ganz natürlich
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