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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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Den ganzen Weg über hält sie seinen Blick fest, bemerkt das Messer, das er immer noch in der Hand hält, einen Streifen Fett auf dem Wams, einen Krumen in seinem kurz geschorenen Bart.
    »Was sagst du da?« Er kniet vor ihr nieder, die Wut ist der Angst gewichen. Aber sie sagt nichts mehr. Sie verbirgt ihr Gesicht und fühlt eine sonderbare Erleichterung darüber, dass es nicht länger ein Geheimnis zwischen ihnen sein soll.
    »Ist das wahr?« Er bleibt auf den Knien vor ihr hocken, abersie sieht nur die Innenseite ihrer eigenen Hände, es leuchtet rot zwischen den Fingern.
    Sie nickt, flüstert, es sei bei weitem nicht das erste Mal, doch habe sie versucht, es geheim zu halten. Er will wissen, ob es außer ihr noch andere gehört haben, und beugt den Nacken, als sie den Kopf schüttelt.
    »Was sagt sie selbst?« Er bleibt vor ihr sitzen.
    »Sie sagt, sie habe lange geglaubt, alle Menschen sähen dasselbe, aber nun wisse sie, dass sie Dinge sehe, die anderen verborgen sind.« Mechthild legt zwei Finger auf die Lippen, atmet keuchend aus und fährt fort: »Sie sagt auch, dass sie Gott in einem Licht sieht und eine Stimme hört, die zu ihr spricht.« Jetzt ist alles gesagt, jetzt ist es an ihm, eine Entscheidung zu treffen.
    Hildebert schweigt so lange, dass Mechthild vor Nervosität Herzklopfen bekommt.
    »Ich spreche mit Witwe Sophia und Jutta selbst, wenn ich wieder nach Sponheim reite«, sagt er und kommt auf die Beine.
    Sie will seine Hände nehmen, sich an ihn drücken. Sie will ihre Kammer wieder für ihn öffnen, so oft er es wünscht, das sanfte Eheweib sein, das er verdient. Aber sie schafft nur, mit den Fingern seinen Arm zu streifen, bevor er sich abwendet, Falk zu sich ruft und geht.
    »Es wird gelingen, so Gott will«, ruft sie ihm nach, aber die Tür ist schon hinter ihm zugefallen.
 
    Mechthild ist sowohl erleichtert als auch unruhig. Sie lehnt sich aus dem Fenster und ruft das Kind, wütend darüber, dass sie noch immer mit nackten Füßen in der Frühjahrskälte steht, wütend darüber, dass Agnes nirgends zu sehen ist. Hildegard reagiert nicht, es ist, als sei sie taub und blind, und Mechthildrauscht durch den Saal, rasend über ihr eigenwilliges, merkwürdiges Kind. Durch den Saal und die Vorhalle, um das Haus herum, durch das kleine Tor zum Obstgarten. Das lange Gras peitscht ihr um die Knöchel.
 

 

19
      
Hildegard spürt die Steine, die Erhebungen, die Zacken, die Hohlräume in ihrem Inneren, all die Stellen, an denen das Wasser eindringen kann, den sanft strömenden Regen, der sich hart macht und zu einem Stemmeisen wird, wenn der Frost einsetzt, Risse in die Steine treibt, den Granitstein entzweisprengt.
 
    Hildegard spürt den Schmerz, wenn sie die Stirn dagegenlegt, die Lippen, die Handflächen an die eiskalte Mauer drückt, hört, wie der Schatten singt, wie die Feuchtigkeit ihre Füße umfängt wie die Flammen einen Pfahl.
 
    Sie spürt den Schmerz, der die Unterschenkel hinaufkriecht, in den Kniekehlen Purzelbäume schlägt, sich bis ganz zu den Ellbogen schlängelt, den Wangen, den Augenhöhlen, die Kälte, die wie Nadeln sticht.
 
    Sie ist aus Stein, nur der Magen tief in ihrem Körper ist eine flammende Sonne, wie der Duft von Stall und schwülem Sommerwind. Sie lauscht, die Steine singen, die Farbe Grau singt, die Erhebungen sind ein Gesang, die Hohlräume ein anderer. Gurrende, langsame Töne, die durch die Ohren und gleichzeitig durch die Füße dringen.
 
    Sie springt von der Mauer weg, hin zu einem Grasbüschel in der Sonne, hin zum Duft von Thymian, Salbei, stillstehendem Wasser und Moos. Wenn sich die Glieder wieder von Stein in Fleisch verwandeln, wird sie zu einem Bienenstock, summend, schmerzend, brennend wie nach einem Stich. Der Duft ist der Klang einer Stimme, die sie nicht deuten kann, die sie aber in allem sucht, was sie tut, ein Geheimnis, eine Sehnsucht, die besser ist als die Ruhe in Hildeberts Stimme, besser als Mechthilds mildestes Lächeln.
 
    Die Erde dröhnt und schmatzt wie ein zähflüssiger Brei, Schritte nähern sich ängstlich, hitzig. Aber Hildegard öffnet ihre Augen nicht, klammert sich an die Stimme und den Gesang der Steine. Das Kleid klebt an ihren Beinen, aber die Erde ist warm. Sie ist immer noch eine Kugel aus Feuer.
 
    Hildegard, Hildegard, rufen die Schritte, die verzweifelt zwischen den Bäumen des Obstgartens hindurchjagen. Sie geht in die Hocke, trommelt mit den Fingern eine Antwort auf die Erde. Da ist die Schale der Erde, die

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