Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Schlag über den Hinterkopf.
In der Kammer beruhigt sich das Kind. Agnes eilt herbei, aber Mechthild schickt sie hinaus, kniet sich neben die Kleine, die nach ihr schlägt und ihre Liebkosungen nicht annehmen will. Hildebert fühlt sich wie ein tapsiger Bär, der versehentlich auf eine Lichtung geraten ist und dem es nun nicht einfällt, auf dem Absatz kehrtzumachen, sondern nur dümmlich dasteht und auf den Pfeil wartet, der bereits auf dem Bogen liegt.
»Da siehst du es«, zischt Mechthild, genau wie er es erwartet. Obwohl er nicht weiß, was es ist, das er sehen soll, besteht kein Zweifel daran, dass sie meint, es sei seine Schuld. Aber er hat nichts gemacht. Nur dagesessen, na gut, und auf dem Gespräch herumgekaut, das sie vorher geführt hatten, über Mechthilds ungeheuerlichen Vorschlag, Hildegard in einer Klosterzelle einzukerkern, am Disibodenberg, der ihm alles andere als behagt, gegen den er aber auch nichts sagen kann. Aber er hat wirklich nichts gemacht. Wie gewöhnlich steigt die Wut plötzlich und heftig in ihm hoch, wünscht, Mechthild zu treffen, die am Bett des Kindes sitzt. Doch der Anblick von Hildegards leichenblassem Gesicht und der kleinen Hände, die zu Fäusten geballt auf der Decke liegen, hält ihn zurück. Stattdessen dreht er sich auf dem Absatz um, geht mit polternden Schritten zurück in den Speisesaal, setzt sich und schielt auf die Kinder, die wie verschreckte Kaninchen die Köpfe einziehen. Er leertden Becher, putzt sich den Mund ab, taucht die Finger in die Fingerschale und schnipst Hugo, der ihm am nächsten sitzt, Wasser ins Gesicht. Zuerst sieht er seinen Vater erschrocken und verblüfft an, dann bemerkt er das Blitzen in dessen Augen und lacht. Die anderen lachen auch, laut und ausgelassen. Hildebert steht auf, formt die Hände vor dem Mund zu einem Trichter: BUH . Dann halten sie sich die Bäuche und lachen, denn sie verstehen gut, dass es komisch ist, verstehen gut, dass sie so ängstlich und niedergedrückt dasaßen und sehr komisch ausgesehen haben müssen. Nur Clementia versteht es nicht, oder sie versteht es sehr wohl, denkt aber an ihre jüngste Schwester und macht sich Sorgen, will fragen, kann aber nicht den Augenblick finden, um zu Wort zu kommen. Außerdem kennt sie die Antwort: Hildegard braucht Ruhe.
Mechthild sitzt noch immer bei dem Kind. Sie streichelt ihr über Wangen und Stirn, und Hildegard protestiert nicht länger gegen die Berührung. Den süßen Duft des Kindes würde Mechthild wiedererkennen, auch wenn man die ganze Bermersheimer Kinderschar rings um sie herum aufstellen und ihr die Augen verbinden würde. So ist es für sie mit allen ihren Kindern, genau wie bei den Tieren, denkt sie und drückt vorsichtig ihre Lippen gegen die Wange des Kindes. Kühl und weiß, sie atmet so schwach, dass Mechthild einen Finger unter ihre Nasenlöcher halten muss, um sicher zu sein, dass sie Luft holt.
»Mein Kind«, flüstert sie sanft, und Hildegard hört die Stimme, aber nicht die Worte. Hört diejenige von Mechthilds Stimmen, die sie am liebsten mag.
»Was ist passiert?«, flüstert Mechthild, als sie spürt, dass das Kind sie nicht länger zurückweist, sondern mit seinem leisen Atem auf der Kante zum Schlaf balanciert.
»Ich weiß es nicht.«
»Hat dir etwas weh getan?«, fragt Mechthild und lässt ihren Blick suchend über Arme und Hals des Kindes wandern in der Hoffnung, den Stich einer Biene oder etwas anderes zu entdecken, das die Aufgebrachtheit ihrer Tochter erklären kann. Aber Hildegard schüttelt nur den Kopf, ganz schwach, lauscht dem fast unhörbaren Rascheln von Haar gegen Stoff.
»Es war …« Sie zögert, will die milde Stimme ihrer Mutter festhalten, aber Mechthild drückt ganz sachte ihre Hand, ermuntert sie, mit einem leisen, weichen Ja weiterzusprechen.
»Ihr wart …«
»Ja?«
»Du und Vater …«
»Ja?«
»Es war …«
»Ja?«
»Ihr wart Blätter, die plötzlich weg waren. Es war …«
»Blätter?«
»Und kochendes Öl, gerade so, als würde man kleine Pasteten kochen, aber die Haut …«
»Die Haut?«
»Und ein Schatten, der einer Fußspur glich. Es war nicht der Tod, aber wie tot.«
»Tot?« Mechthild gibt sich große Mühe, die Wange des Kindes weiter im gleichen, ruhigen Rhythmus zu streicheln, aber ihre Finger sträuben sich.
»Kein guter Tod«, flüstert Hildegard. »Nicht der Garten des Paradieses.« Sie schweigt, öffnet die Augen zu kleinen, hellen Schlitzen und dreht den Kopf eine Ahnung zu ihrer Mutter
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