Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
wenn die anderen Fangen spielen. Zwei Enden, die zu einem Kreis zusammengefügt werden sollten, aber einander immer ausweichen.
Will sie weg? Sie weiß es nicht, denn weg gibt es nicht. Weg ist, als würde sie mit der Fußsohle sehen oder darüber nachdenken, wohin der Bach läuft. Weg ist Frankreich oder der Gedanke an Drutwin mit glattrasiertem Schädel. Es sind nur Punkte, die vor den Augen tanzen, die mächtige Hand des Windes im Getreide. Die Welt ist hier. Sie endet da, wo der Weg auf der anderen Seite von Bermersheim im Wald verschwindet, endet in einer Wolke goldenen Staubes, der um die Pferde herum aufwirbelt, um Vater und Drutwin und Roricus. Und nachher ist nur der Weg übrig.
Sie haben harsch zueinander gesprochen, Mechthild und Hildebert. Hildegard weiß es, weil sie ihre undeutlichen Stimmendurch das Fenster hörte. Sie weiß es, weil Hildebert nicht aufsieht, während sie essen, weil dafür aber Mechthild ihn die ganze Zeit ansieht, versucht, die kleinste Bewegung seinerseits vorauszuahnen, das Mädchen wegschickt, um selbst Bier in seinen Krug zu gießen, bevor er ihn auch nur halb geleert hat, ihm das Brot hinhält, noch bevor er bittet, es ihm anzureichen. Hildegard sieht ihre Mutter an, sieht auf ihren Hals, eine blaue pulsierende Ader unter der hellen Haut wie ein kleines erschrockenes Tier, das sich an die Erde drückt. Sie sieht ihren Vater an, seinen kräftigen Bart, die hellrote, gedunsene Narbe quer über der Augenbraue, die er sich auf dem Schlachtfeld zugezogen hatte, bevor sie geboren wurde, und die sie immer unerklärlich traurig macht. Ihre Gesichter sind unruhig auf die gleiche Weise wie Blätter, die sich im Wasser spiegeln. Schaukelnd und wie verschleiert. Sie werden aus dem dunklen Wasser nach oben getragen und sind gleichzeitig ein Teil des Flusses, der niemals von der Oberfläche weggeschnitten werden kann, ganz gleich, wie scharf das Messer ist, das man benutzt. Ihre Gesichter sind Weidenbäume, die sich im Wasser spiegeln, da, wo die großen Steine im Bach liegen, direkt vor der Biegung. Ihre Gesichter sind Wasser, und das Wasser ist kochendes Öl, das die Pasteten golden werden lässt, das einem Menschen die Haut abzieht, das sie zu einem Nichts in der Welt auflöst.
Vielleicht ist es das Licht, das sich verändert? Vielleicht sind die Flammen in der Feuerstelle aufgelodert? Vielleicht braut sich Regen zusammen?
Aber der Himmel strahlt verräterisch blau, die Sonne flicht ihr kräftiges, goldenes Haar und wirft es leichtsinnig zur Fensteröffnung herein. In der Feuerstelle schläft die Glut unter Asche und Staub.
Ein Schatten fließt den Strom herauf, gleicht der Fährte eines Tieres im schwarzen Humusboden der Felder, nur tausendmal größer und aus Dunkelheit gemacht, genau wie ein Schatten. Sie sind Wasser, sie sind Erde, Blätter, zerrissene Gesichter, die gleich von der Schattenfährte verschlungen werden. Und Hildegard? Was ist sie selbst?
22
Am Tisch sitzend, beginnt Hildegard plötzlich zu weinen, sie schluchzt so laut, dass alle innehalten und glotzen.
»Was ist denn?«, fragt Hildebert, aber sie antwortet nicht, heult nur lauter und lauter.
»Irmengard, Odilia? Wart ihr das? Hugo, hast du ihr etwas getan?« Hildebert erhebt sich halb von seinem Stuhl und beugt sich drohend über die Tischkante. Die Kinder ziehen die Köpfe ein.
»Was hast du denn?«, versucht es Mechthild und legt einen Arm um ihre Jüngste. Die Heulerei kann sie aushalten, aber den Zug, der über das Gesicht des Kindes geht und es in zwei ungleiche Hälften zerteilt, kann sie nicht ertragen.
Hildegard sinkt mit dem Oberkörper auf den Tisch und schluchzt, ohne sich trösten lassen zu wollen. Hildebert steht auf, schnappt sich das Kind mit einer schnellen Bewegung, nimmt es auf die Arme und muss lachen, als sie ihre geballten Fäuste gegen seine Schulter hämmert. Ihre Augen sind offen und leer, das ist nicht natürlich. Er schüttelt sie, doch es kommen nur mehr Tränen, mehr Schreie. Mit ihren kleinen Händen versucht sie, seinen Bart zu packen.
Mechthild ist direkt hinter ihnen, als Hildegard aus demSpeisesaal getragen wird. Hugo lacht, Benedikta schlägt ihm über den Hinterkopf, um seinen unpassenden Ausbruch zu unterbinden, Odilia isst weiter, als sei nichts geschehen. Wenn sich jedes Mal das ganze Haus in Bewegung setzt, weil Hildegard einen ihrer Anfälle bekommt, werden sie nie Ruhe haben, sagt sie und erhält als Quittung für diese Bemerkung ebenfalls einen
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