Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
im Frühjahr aufbricht und nichts mehr gefangen halten kann: nicht die hellroten Regenwürmer, nicht die Maulwürfe, Keime und Triebe, die Feuchtigkeit, die durch alles sickert, eine matschige Suhle aus Veränderung.
Mutter? Warum weinst du? Mutter?
Der Stein ist nicht nur Stein, er ist zum Bersten voll mit feuchter, grüner Kraft, die ihn zusammenhält, voll von Stärke, sodass Menschen Mauern bauen können, die sie beschützen, voll von rotem, brennendem Feuer, sodass er erhitzt und gehärtet werden kann.
Mutter, ich habe es selbst gehört. Es waren nicht die Steine, die sangen, es war das Licht, es war die Stimme. Ich hörte es, ich sah es, es war ein Gesang, das ist wichtig, willst du das nicht hören, Mutter?
20
Erst als Mechthild nur noch wenige Schritte von ihr entfernt ist, dreht sich Hildegard um. Ihr Blick ist fern und offen, auf ihrer Stirn sind Abdrücke von den rauen Steinen der Mauer. Sie zuckt zusammen, als Mechthild sie am Arm packt. Das Kind versucht, etwas zu erklären, aber sie hebt nur warnend die Hand und zerrt Hildegard mit sich.
Erst im Saal spricht Mechthild zu Hildegard. Sie befiehlt dem Kind, sich auf den Stuhl bei der Feuerstelle zu setzen, und gibt ihr ein Zeichen, sie solle ihre Beine ausstrecken. Sie kniet sich vor die Füße ihrer Tochter und reibt die Haut, um sie zu wärmen. Ohne ein Wort legt das Kind eine Hand auf ihren Kopf. Mechthild erstarrt und hört augenblicklich mit ihrem hektischen Reiben auf.
»Ich habe etwas gehört«, beginnt Hildegard, aber Mechthild zieht den Kopf mit einer ruckartigen Bewegung von ihrer Hand weg, sodass sie verstummt.
»Du!« Mechthild will sie zurechtweisen, sie ausschimpfen dafür, sich schon wieder vergessen zu haben, für die Dummheiten, die sie sagt, dafür, im Schatten zu frieren, für die Kälte der Erde und ihre Gebrechlichkeit, aber die Worte wollen nicht heraus. Stattdessen schickt sie Agnes, die den ganzen Weg bis in den Saal hinter ihnen hergehuscht ist, hinunter, um Fett zu holen, das sie in die Füße des Kindes einmassieren kann.Sie wollen die Wärme von Mechthilds Händen nicht annehmen.
Als Agnes mit dem Topf zurückkehrt, hat sich Mechthild beruhigt. Hildegard sitzt mit geschlossenen Augen da und sieht aus, als sei sie in der wohligen Wärme der Feuerstelle eingeschlummert. Trotz allen Einreibens ist ihre Haut kühl wie ein Seerosenblatt. Und Mechthilds Sorgen werden nicht zu Scham. Am selben Abend befällt Hildegard wieder ein hohes Fieber, und sie spricht im Wahn über Steine und den dreieinigen Gott. Mechthild und Agnes bekreuzigen sich.
21
Es sind der Lärm und die Unruhe. Es ist Agnes, die so laut schnarcht, dass Hildegard aufwacht und sich die Decke um den Kopf wickeln muss, um wieder einschlafen zu können. Es ist Hugo, der kleine Steine nach Irmengard wirft, weil sie gegen seine Lehmkugeln getreten hat. Es ist Mechthilds kommandierende Stimme, wenn sie mit der Dienerschaft spricht. Es sind Schritte, die über die steinernen Fußböden klappern, bis Hildegards Gedanken im gleichen Takt klappern. Es ist Odilia, die, ohne zu fragen, ihre Puppe genommen und sie zwischen den Büschen im Garten liegengelassen hat, wo die Erde matschig und schlammig ist, als sie sie viele Tage später zufällig findet. Es ist jemand, der ruft und ruft, nach Hildegard oder nach jemand anderem. Es sind Stimmen, die sich während der Mahlzeit ineinander verwickeln, die von einem scharfen Klirren durchschnitten werden. Der große Holzspatel, der über den Boden des Fasses kratzt, die Messerklinge, die durch den Apfel in Hildeberts Hand geht. Geräusche, die ansteigen undansteigen, bis Hildegard sie nicht mehr voneinander unterscheiden kann, sondern unter den Tisch gleitet und sich die Ohren zuhält, bis irgendeiner sie findet, über sie lacht und wieder auf die Bank hievt oder bis die Stimmen taumelnd vom Tisch aufstehen, lauthals lachend, und sie still und leise hervorkriecht, damit niemand bemerkt, dass sie einen Augenblick fort war. Es ist das Bellen der Hunde, die Glocke in der Kapelle, die Betriebsamkeit vor einem Feiertag, Tuch, das auf dem Tisch mit einem langen, knisternden Geräusch ausgerollt wird, das Wollkleid, das die Haut aufkratzt, eine Falte im Stoff, die sie während der Messe peinigt. Es ist das Erntefest und das Kreischen und Rufen und Gackern, es ist die Kuh, das Huhn, der Hahn: Hildeberts Hof.
Hildegard versteckt sich im Garten, beim Bach, unter dem Tisch. Es sind ihre Schlupfwinkel,
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