Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
hin. Obwohl Mechthild nichts sagt, weiß Hildegard, dass sie die milde Stimme verloren hat.
»Ich konnte es einfach nicht verstehen.« Dann schließt sie die Augen, der Kopf sinkt tiefer in das Kissen. Ein feiner Faden Speichel läuft aus dem Mundwinkel und bildet einen dunklen Flecken auf dem Stoff. Hildegard gleicht einer Toten, aber sie schläft nur. Schläft erschöpft und unbeweglich, schläft eine ganze Nacht durch, in der Mechthild kaum wagt, sich zu bewegen, bis schließlich beide Beine eingeschlafen sind und sie aufstehen muss.
Agnes wartet auf der anderen Seite der Tür. Sie hat sich auf den nackten Boden gelegt und ist eingeschlafen. Mechthild stößt sie mit dem Fuß an, und erschrocken setzt sie sich auf.
»Frau«, sagt sie und kommt auf die Beine, stolpert beinahe und richtet sich auf.
»Sie schläft«, entgegnet Mechthild schroff. Sie lehnt sich gegen die Wand, um den Fuß zu massieren, in dem es immer noch kribbelt.
»Hat sie Fieber?«
»Nein.«
»Oh, Gott sei gelobt.« Agnes sieht so erleichtert aus, dass Mechthild einen Stich der Dankbarkeit verspürt.
Mechthild findet keine Ruhe. Jedes Mal, wenn sie kurz davor ist, einzunicken, fährt sie hoch, eine Palette unheimlicher Erscheinungen vor Augen. Hildegard ist tot. Hildegard ist verrückt. Und alle Gedanken gehen in Flammen auf, rote und orange Zungen in einem Feuer aus trockenen Stöcken und Zweigen, kleine Tiere, die schreiend aus dem Rauch flüchten. Da sind auch ein mattschwarzes Pferd, das über einen Hofplatz läuft, und ein Donnerschallen. Mechthild ist im Zweifel darüber, ob sie schläft oder wach ist. Als es hell wird, steht sie auf. In ihrer kompletten Kleidung hat sie dagelegen, und ihr Rücken ist steif und schmerzt. Sie geht zu Hildeberts Kammer, noch bevor sie ihr Haar gekämmt hat. Sie klopft an die Tür, zuerst leise, dann laut und dröhnend, bis Meister Otto mit Schlaf in den Augen auftaucht. Hildebert ist bereits vor dem Morgengrauen aufgebrochen.
»Nach Sponheim, Frau.«
»Warum so früh?« Mechthild gefällt es nicht, dass Otto mehr über die Pläne ihres Mannes weiß als sie selbst. Barsch und herrisch versucht sie, ihre Unsicherheit zu verbergen.
»Das hat er nicht gesagt, Frau. Er befahl dem Stalljungen, aufzusatteln.«
»Wann ist er zurück?« Ihre Stimme ist hart.
»Das sagte er nicht, Frau.«
Otto kann nichts dafür, und Mechthild zügelt ihre Wut. Mit einem Nicken und einer Handbewegung schickt sie ihn weg und geht zurück zur Kammer. Sie legt sich auf das Bett, um die Schmerzen im Rücken zu lindern. Sie kann hören, wie auf dem Hofplatz der Tag beginnt. Sie hört den Hirtenjungen, der die Ziegen hinaustreibt, die Puten und die Hühner, das Mädchen, das sich im Küchenhaus zu schaffen macht, jemanden, der etwas fallen lässt, dass es auf den Boden kracht, und eins der Kinder von einem der Dienstmädchen, das heult. Ein spröder Ton von der Glocke der Dorfkirche. Die Kinder, die von Clementia den Flur entlanggeführt werden. Sie sieht sie vor sich, Clementia. Sie wird die souveräne Art vermissen, mit der ihre Älteste Ordnung in die kleine Schar bringt, wenn sie bald ihr Zuhause verlässt. Es ist an der Zeit, das weiß sie wohl, und die Ehe ist seit Jahren vereinbart. Selbst Clementia, die lange zurückhaltend war, ist ungeduldig geworden, und jetzt ist das Datum festgelegt: Mariä Heimsuchung, der zweite Tag im Juli.
Clementias zukünftiger Mann kann sich glücklich schätzen. Sie ist dazu geschaffen, Hausfrau zu sein, mit ihren breiten Hüften geschaffen, Kinder zu gebären. Mechthild dreht sich um und seufzt zufrieden. Es ist eine gute Partie, die sie gefunden haben. Ja, schon, er ist etwas älter, fast in Hildeberts Alter, und er wohnt ein paar Tagesreisen entfernt, nördlich von Aachen. Aber dafür werden Clementias Kinder seinen Adelstitel erben, und sie kennt niemanden, der so viel Land besitzt wie er. Er steht in der Gunst von Kaiser Heinrich IV . und bekam die Erlaubnis, eine kleine Burg zu errichten, wofür er als Gegenleistung im Falle eines Krieges Leute abstellen muss. Er ist Witwer, aber die erste Ehe war glücklicherweise kinderlos. Das Beste ist, dass er selbst Clementia wählte, das erspart ihnen Verhandlungen und Tauziehereien. Damals war sie gerade dreizehn geworden, und er machte auf dem Weg nach Hause in Bermersheim halt. Er hatte sich Hildebert angeschlossen, nachdem er in Heidelberg einen kostbaren Jagdfalken geholt hatte. Dort hatten sie die beste Zucht. Der große, goldbraune
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