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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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willenlos niedersinkt, aufwirbelt und niedersinkt, ein unruhiger Atem, die wilde Mähne des Pferdes. Die Baumkrone ist ein Granitblock, die raue Oberfläche, die im Licht glitzert, flirrt und wabert in der Luft, blendet, wenn die glitzernden Stücke die Sonne einfangen. Die Blätter sind Wasser, das über ein steiniges Flussbett läuft, sie sind heftiges Feuer, ein Scheiterhaufen, der ein Heer von Teufelskindern aus seinem Griff entlässt.
 
    Agnes ruft nach ihr, aber ihr Name besteht nur aus zerbrochenen und unbekannten Lauten. Agnes kommt gelaufen, will Hildegard hochziehen, sie soll stehen, reißt an ihren Armen undBeinen. Doch sie schreit, Agnes solle sie in Ruhe lassen, denn sie ist auch ein Hund im Bach mit Steinchen im verfilzten Fell, Gliedmaßen, die abreißen können so leicht wie nur irgendetwas. Agnes sagt: Fieber und kalte Erde. Sagt: Feuchtigkeit und Regenwasser. Hildegard brüllt: LASS MICH IN FRIEDEN .
 

 

31
      
Anfang November setzt der Frost ein. Hildebert ist seit über einem Monat zu Hause und ist rastlos und reizbar. Er wartet auf Nachricht aus Sponheim: Darauf, dass der Herzog ihm befiehlt, zurückzukommen, oder darauf, dass Sophia einen Boten schickt, um seine jüngste Tochter zu holen. Die Ernte war die beste seit Jahren. Der Sommer war warm und feucht zugleich und bot sowohl dem Getreide als auch dem Obst beste Bedingungen. Mechthild spricht fast nicht mehr, sie geht abwesend durch die Räume, aber ihre Anwesenheit ist anmaßend, und Hildebert fühlt sich überwacht und belästigt. Hugo ist unmöglich zu bändigen, die Kinder toben und das Gesinde lärmt. Nur Hildegard kann er ertragen, und sie wird ihm bald weggenommen. Er wundert sich, wie die Natur sie mit so reichen Gaben überschütten kann, wie alles blühen und wachsen kann und es doch so ist, als würde das Leben auf seinem Hof langsam verebben. Scheune und Vorratskeller sind prall gefüllt mit den Gaben des Herrn, doch die Seele liegt danieder vor Hunger. Von Clementia haben sie noch nichts gehört, und das Einzige, was Mechthild ab und zu aus ihrem Dösen weckt, ist die törichte Unruhe, ihre Tochter sei nicht imstande, Graf Gerbert einen Sohn zu schenken.
 
    In Sponheim denkt Sophia an Hildeberts seltsames Kind. Sie will ihm gerne den Dienst erweisen, sein Gotteskind zusammen mit Jutta ins Kloster zu geben, ihre Sorgen wollen aber nicht abreißen. Es widerspricht ihrer Vernunft, ein Kind einmauern zu lassen. Als Hildebert ihr geradeheraus sagte, es sei nicht seine, sondern Mechthilds Idee gewesen, bekräftigte dies eine Ahnung, die sie bereits hatte. Hildebert hat nie sehr viel über sein Eheweib gesprochen, und sie hat selbst nur einen oberflächlichen Eindruck von ihr. Es gefiel ihr nicht, zu sehen, wie der Kummer über die arme Benedikta sie ausgezehrt hatte. Es ist gefährlich, sich auf diese Weise gehenzulassen. Wenn Kummer und Hinfälligkeit in den Körper eindringen, wird die Haut feucht und schlaff wie bei Mechthild, das bleiche Fleisch saugt das Elend in sich auf.
    Jutta neben Hildeberts grober Frau zu sehen war, als pflanze man eine Lilie neben eine Nessel. Jutta war dem Kind sogleich freundlich gesinnt, und obwohl Sophia sich auf sie verlassen kann, was religiöse Angelegenheiten betrifft, kann sie doch ihre Sorge nicht loswerden, ob es falsch war, ihr Wort zu geben. Sie denkt an ihre eigene Tochter, eine polierte Kugel aus Marmor, so rein und glatt, dass keinerlei Schmutz an ihr kleben bleibt. Niemand kann noch daran zweifeln, dass sie berufen ist, Gott zu dienen, aber versetzt sie das in die Lage, sich um ein Kind zu kümmern? Sophia kann nicht mit dem Priester sprechen, denn ihre Sorge dreht sich weder um Glauben noch um Geist, und wenn sie versucht, die Gedanken an Hildegards Wohl und Wehe festzuhalten, entgleiten sie ihr und verknüpfen sich zu einem strammen Netz, das sich um Jutta schlingt. Die Sorge ist ein kalter und unförmiger Nebel, der sie nachts weckt und frieren lässt. Sie entspringt aus ihrer Liebe und ihrer Besorgnis, aber in den frühen Morgenstunden nehmen ihre eigenengeheimen Gedanken in dem Nebel Form an und werden zu weniger willkommenen Gestalten. Dann sieht sie Mechthild, wie sie im Sterben liegt, Hildebert als Witwer. Sie stellt sich vor, dass er nach Sponheim geritten kommt, und sie muss ihren Verwalter nie wieder für seine Verschwiegenheit bezahlen, wenn sie ihn in ihrem privaten Gemach empfängt. Sie und Hildebert: Dort teilt sich der Nebel und macht einem zaghaften Morgengrauen

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