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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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Haus.
    Hildebert geht vor seiner jüngsten Tochter in die Hocke, umfasst ihr Kinn und sieht ihr gerade in die Augen, forschend, fragend. Hildegard erwidert seinen Blick, und er lacht beim Anblick des todernsten kleinen Gesichts. Er kneift sie in die Nase, und sie lacht zusammen mit ihm. Hildeberts Lachen ist wie frisch geschleuderter Honig, der weich durch seine Augen läuft, sich in die Lachfalten und zu seinem großen Mund ausbreitet. Er hebt sie hoch und schwingt sie herum, dreht sich dabei, wie er es tat, als sie noch ein ganz kleines Mädchen gewesen war. Rund herum und herum schwingt er sie, sodass sie kreischt, und der Himmel wirbelt um sie herum, der Wind wirbelt, die Häuser, die Bäume, die Gedanken. Hildebert dreht sich, dass ihm schwindelig wird, und mit dem Kind in den Armen taumelt er zur Stallwand und stützt sich dagegen, lacht, dass er kaum noch Luft bekommt. Er stellt sie so vorsichtig ab, wie er kann. Hildegard kippt purzelnd um, liegt schwindelig und benommen auf dem Hofplatz und lacht geradewegs hinauf in den Himmel.
 
    Hildebert muss die Holzschlagarbeiten inspizieren, und er will Hildegard dabeihaben. Er muss niemanden um Erlaubnis fragen, schickt sie einfach ins Küchenhaus, wo Agnes Teig aufschlägt, um Essen für sie beide zu ordern. Agnes traut ihren Ohren nicht, trocknet die mehligen Hände an der Schürze und tritt blinzelnd auf den Hofplatz hinaus, um mit eigenen Augen zu sehen, ob das Kind die Wahrheit sagt. Hildegard ist nie mit ihrem Vater im Wald gewesen, und vor Benediktas Tod wachte die Frau des Hauses über sie wie ein Habicht. Sollte sie irgendwohin mitkommen, musste sie in Decken eingepackt und in den Wagen verfrachtet werden, sie hat nie auf dem Rücken eines Pferdes gesessen.
    Hildegard hat keine Angst vor dem großen Tier, und Agnes freut sich über die Ungezwungenheit des Kindes. Das Haus brütet dunkel und still vor sich hin. Irmengard und Odilia, die Erlaubnis bekommen haben, Zöpfe und Blumen aus Teig zu machen, um die Torten damit zu verzieren, kommen gerade noch rechtzeitig angerannt, um ihre kleine Schwester auf dem dunklen Pferd thronen zu sehen. Hugo kommt ebenfalls hinzu, aber Hildebert macht keinerlei Anstalten, ihn mitzunehmen. Er steht mit dem Rücken zu seinem Sohn und spricht mit Hildegard, während er den Essensbeutel festzurrt. Irmengard und Odilia glotzen nur einen Augenblick, bevor sie zurück ins Küchenhaus gehen, der Wald zieht sie nicht an. Hugo bleibt trotzig stehen, und als sich Hildebert in den Sattel schwingt, tritt er mit dem Fuß quer über die Erde, bevor er hinter dem Stall verschwindet.
 

 

28
      
Hildegard legt die Hände um den Hals des großen Tieres, die Muskeln zittern unter dem glänzenden Fell. Sie hält sich die Hände vors Gesicht, saugt den kräftigen Duft des Tieres ein. Als sie das offene Stück zum Wald überqueren, schlägt Hildebert die Hacken in die Flanken des Pferdes, legt einen Arm um das Kind und hält es fest. Sie bohrt die Hände in die Mähne des Pferdes und legt den Kopf zurück gegen den Körper ihres Vaters. Sie drückt die Schenkel fest an das Tier, um nicht herunterzufallen. Die Kraft des Tieres überträgt sich auf sie, durchdringt sie wie eine Quelle, die aus einem Felsen entspringt, sodass sie sich zusammenkrümmen und lachen muss.
 
    Zwischen den Stämmen lässt Hildebert das Pferd ruhig im Schritt trotten, es setzt die Hufe sorgfältig zwischen die weichen Grasbüschel und meidet die scharfen Steine. Hildebert summt leise vor sich hin und spricht zu dem Pferd, Hildegard schwitzt an seinem Körper. Ein stiller Wind spielt in den Baumwipfeln, da sind weiße Fetzen aus Schweiß am Hals des Pferdes, wie ein Schwall Holunderblüten. Hildegard kann den Körper nicht ruhig halten, sie folgt den Bewegungen des Pferdes, vor und zurück, vor und zurück, eine große und heimliche Freude, so als finde man einen kühlen und feuchten Platz an einem warmen und lauten Tag, einen einsamen Ort, an dem es nach Farn und Erde duftet.
 
    Wenn sie die Augen schließt, zeichnen der Duft des Pferdes und das Geräusch des Windes und die Stimme ihres Vaters und die knirschenden Schritte des Tieres kreuz und quer Striche auf die Innenseite ihrer Augenlider. Zuerst ähneln sie einerSonne, dann einer Schwalbe, dann einem fremden Gesicht. Wenn sie die Augen wieder öffnet, streckt sie die Arme aus. Zweige schlagen sachte gegen ihre Hände, Trauben aus Vogelbeeren schlagen wie kleine Fäuste.
 
    Tief im Wald klingt das dumpfe

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