Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
seiner Gedanken hängt sich fest wie Schafwolle, die sich an einem Busch verfängt. Er nickt, ohne es zu wissen. Ihm gefällt die Art nicht, wie sie in letzter Zeit zu ihm kommt, untertänig, ohne es zu sein, eigensinnig, aber immer im Verborgenen. Er wischt sich über Stirn und Augen, und Hildegard dreht sich halb zu ihm um.
»Soll ich weg?«, fragt sie ohne weiteres, und ihre Frage ist ein Schlag, den er nicht hat kommen sehen.
»Wer hat das gesagt?« Er streicht ihr übers Haar. Wie sie dasitzt, gleicht sie mehr einem Zwerg als einem achtjährigen Kind, mit der hohen Stirn, den tiefliegenden Augen und dem stramm geflochtenen Haar. Sie ist ein Pünktchen unter dem Himmel und den Kronen der Bäume, und er spürt einen Stich verzweifelter Angst, weil sie für ihn bald verschwunden sein wird.
Sie antwortet nicht auf seine Frage, wendet das Gesicht ab und sieht in dieselbe Richtung, in die er zuvor geblickt hat. Die Sonne hat sich auf die gegenüberliegende Seite des Hofs bewegt und wirft ein zartes Licht über die Landschaft, das alle Konturen aufweicht und die Einzelheiten gleichzeitig hart und nackt hervortreten lässt. Im Gegenlicht ist die Mauer dunkel, als sei sie von Regen und der Feuchtigkeit der Erde durchnässt.
»Deine Mutter?«, fragt Hildebert. Niemand außer ihm selbst, Mechthild, Vater Cedric und der Familie in Sponheim weiß etwas von den Plänen, Hildegard schon diesen Winter fortzuschicken. Obwohl Mechthild wie entrückt wirkt seit Benediktas Tod, hätte er sich nicht vorgestellt, dass sie das Kind auf eigene Faust in die noch unfertigen Pläne einweiht. Er hat sie gebeten zu warten, bis sie verabredet haben, wann das Kind die Reise antreten soll.
Hildegard schüttelt den Kopf, ohne ihn anzusehen.
»Soll ich weg?«, fragt sie wieder. Lügen kann er nicht, und er muss schlucken, bevor er ihr antworten kann.
»Magst du Jutta?«, fragt er, und das Kind nickt.
»Jutta geht ins Kloster, und du sollst mit ihr gehen«, entgegnet er und wischt wieder mit der Hand über die Stirn.
»Das ist gut«, sagt Hildegard und nickt. Sie fragt nicht weiter und sagt nichts mehr, und so spornt Hildebert das Pferd an und reitet im Galopp auf das Haus zu.
30
Die Ulme auf dem Hofplatz ist mächtig und stark. Sie stand schon dort, lange bevor der Hof errichtet wurde. Es ist eine Glocke aus Schatten, ein löchriges Segel, behutsam über das unruhige Herz des Hofs gespannt.
Hildegard legt sich auf die hart gestampfte Erde unter der Baumkrone, sie starrt, bis die Augen voller Wasser sind, starrt sich schwindelig, starrt, bis der Stamm aus ihrer Stirn wächst und Blätter und Himmel ineinanderfließen.
Ohne Licht ist da nichts, die Blätter ringeln und verdrehen sich auf ihre Kehrseite, verschwinden in dunklen Feldern, entstehen aufs Neue, wenn der Wind sie wieder ins Licht schubst, nervöse, fleckige Tiere, die aus einem Stall herausgelassen werden. Schatten können aus bekannten Gesichtern Teufelsgrimassen schneiden, der eine Mundwinkel ein Lächeln, der andere verzerrt. Schatten können Arme und Beine abschneiden, und nur das Licht kann sie wieder fest mit dem Körper vereinigen.
Einmal, als der Bach vom Schmelzwasser angeschwollen und breit war, führte die Strömung einen toten Hund mit sich. Direkt vor dem Hof keilte sich der tote Körper zwischen den Zwillingssteinen fest. Hugo fand ihn, und Hildegard lief hinunter, um zu sehen, warum er so begeistert rief und schrie. Mit einemStock in der Hand sprang er auf den größten Stein und stieß mit dem Fuß gegen das Tier, schlug und zerrte, um es freizubekommen. Das Fell war dunkel und verfilzt, die Hälfte der Schnauze und beide Augen waren schon fort. Er schaukelte schwerfällig, gab aber beim ersten Versuch nicht nach. Also hob Hugo den Stock und drosch auf den toten Körper ein, bis er entzweibrach. Ein Vorderbein riss ab, wie ein Schenkel von einem gar gebratenen Hähnchen.
In der Krone der Ulme sprechen die Blätter miteinander. Sie sind sich uneins, ihre Worte wogen erst hierhin, dann dorthin. Sie fügen sich zusammen in einer unendlichen Kette wechselnder Bilder, auf die man keinen Einfluss hat: Zuerst ist es ein lächelndes Gesicht, dann ist es eine Puppe, der der Kopf abgerissen wird, dann ein krumm gebeugter armer Kerl, der einen Abhang hinunterfällt.
Benedikta liegt in der Erde, ihr Körper bricht entzwei wie der des Hundes im Bach. Blätter sind Staub, der von den kräftigen Fäusten des Windes aufgewirbelt wird, der
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