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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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länger Hunger oder Durst fühlten. Jutta wünscht nur, so zu handeln wie sie, obwohl sie weiß, dass sie eine Nachkommin Evas und nicht Adams und damit schwächer sowohl an Seele als auch Körper ist.
    Sie hat Meinhardts Epistel an Erzbischof Ruthard selbst gelesen und weiß, dass er der Kirche größere Reichtümer angeboten hat, als es jemand von einem Mann erwarten würde, der seine Schwester Gott zum Geschenk macht. Danach hat sie Meinhardt so lange bedrängt und angefleht, bis er ihr versprochen hat, sofort nach Neujahr nach Worms zu reiten und für ihre Sache zu sprechen, sollten sie bis dahin keinen Brief vomBischof erhalten haben. Sie teilt die Tage auf zwischen Gebet, Andachtsübungen, praktischen Verrichtungen und dem Gespräch mit Vater Thomas, als sei sie schon im Kloster. In guten Nächten träumt sie, ihr Körper sei strömendes Wasser, in schlechten Nächten, sie werfe sich sündig über Fleischtorten und Honigbrot, bis sie Blut und Galle erbricht.
    Seit der Begegnung mit Hildegard ist sie davon überzeugt, Gott habe ihr ein Zeichen geschickt. Mit ihren sonderbaren Steinkreisen am schmalen Ufer des Bachs erklärte das Mädchen Wahrheiten, die ihr niemand gesagt haben kann. Es war die Ordnung des Universums selbst, die Hildegard in einem Aufleuchten verstanden hatte, darüber war Jutta nicht im Zweifel. Ganz gewiss haben die älteren Geschwister des Kindes Unterricht von Bermersheims unmöglichem Priester erhalten, Vater Cedric, aber es ist offensichtlich, dass es mit ihm nicht weit her ist. Meinhardt machte sich oft über Drutwins dürftige Lateinkenntnisse lustig, und mit Hugo steht es noch schlimmer. Dass der schäbige Priester dem Mädchen die Hierarchien in der Ordnung des Universums erklärt haben soll, ist völlig undenkbar, und dennoch stand sie gleichsam unbefangen da und erklärte es Jutta besser, als ein Gelehrter es hätte tun können. Dass das Kind sagte, sie habe es von einem Licht erfahren, das stärker als die Sonne schien, ein lebendes, sprechendes Licht, kann nur bedeuten, dass Gott direkt zu ihr gesprochen hat. Es ist die einzige vernünftige Erklärung, die Jutta finden kann, und in diesem Fall ist es dringend geboten, sie angemessen zu unterrichten.
    Jutta hat etwas Ähnliches selbst nie erlebt, aber sie glaubt dem Kind. Hildegard scheute sich zunächst, ihr zu erzählen, was sie gesehen hatte. Das überzeugte Jutta davon, dass Hildegard keine Geschichten erzählte, um sich in den Augen anderer interessant zu machen. Und welches Kind würde auch solche Geschichten erfinden? Welches Kind würde sich wünschen, dass die kritischen und forschenden Augen anderer Menschen auf ihm ruhten und seine Mutter von Wahnsinn und Pakt mit dem Teufel flüstert? Ein solches Kind wäre wahrlich ein außergewöhnliches Kind. Sie war viel zu klein für ihr Alter, mager und schwächlich mit ihrem dünnen Haar und den blauen Schatten um ihre hellen Augen. Nur ihre Lippen waren rot und frisch, sie schob die Unterlippe eine Ahnung vor, wenn sie sprach, als sei sie es gewohnt zu flennen. Jutta vernahm zwar die Liebe der Eltern zu dem Kind, aber auch Mechthilds Strenge und Hildeberts ungebildete Grobheit. Die anderen Geschwister ärgerten die Kleine, sobald sie Gelegenheit dazu bekamen, und das Kindermädchen tat nicht sehr viel, um sie zu schützen. Trotzdem legte das Mädchen seine Hand in die ihre, vertrauensvoll und neugierig. Obwohl ihre Eltern ihr klugerweise verboten hatten, über das lebende Licht und das zu sprechen, was andere nicht sehen konnten, vertraute sie sich Jutta an. Es war nicht schwierig, einander zu verstehen. Darum bekümmert es sie nicht, dass das Kind in einer Klosterzelle eingemauert werden und für die Welt sterben soll, gerade so wie sie selbst. Sie denkt nur darüber nach, wie sie sich in dem Brief ausdrücken soll, den sie an den Erzbischof zu schreiben gezwungen ist, als Appendix zu dem ersten. Hildebert hat ihr ein Dokument gegeben, das detailliert die Reichtümer beschreibt, die er dem Kloster schenken will. Obwohl es ungewöhnlich ist, verschlossene Briefe zu schicken, ist er versiegelt, sodass sie ihn nicht lesen kann. Aber sie ist sicher, dass Hildebert genau so großzügig ist, wie er es sein sollte. Mit Vater Thomas kann sie nicht darüber sprechen, was sie schreiben soll, zu leicht lässt sie sich von der Meinung anderer durcheinanderbringen. Sie hatte sich zunächst vorgestellt, dass ihre Zelle ganz und gar geschlossen sein sollte, nur miteinem Gitterfenster zur

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