Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
schrumpft, wird vor ihren Augen zu einem verkommenen Gockel.
»Verstehst du das nicht?«, fragt er heftig. Er packt ihr Handgelenk und drückt, bis es weh tut.
»Verstehst du nicht, dass mein Wille nichts zählt? Meinhardt will regieren, und da kann ein Mann von niedrigerem Stand nichts ausrichten.« Er löst seinen Griff, schubst ihren Arm von sich und wendet das Gesicht ab. Lange stehen sie da, ohne etwas zu sagen. Sophia lauscht seinen Atemzügen und findet eine sonderbare Freude darin, dass auch er kämpfen muss, um sich zu beherrschen.
»Was tust du nun?«, fragt sie.
»Was kann ich tun?« Er breitet die Arme aus. »Ich hole Hugo beim Herzog, dann habe ich Begleitung auf der Reise nach Worms. Dort biete ich Erzbischof Ruthardt noch größere Reichtümer an dafür, Hildegard mit Jutta ins Kloster gehen zu lassen. Nur dann kannst du auf deinem Gut bleiben, Sophia. Meinhardt ist seine Schwester egal, du kommst mich also teuer zu stehen.«
»Und was tust du dann?« Sophia knüllt die Hände fest zusammen.
»Dann gehe ich nach Bermersheim und verhalte mich ruhig, solange es sich machen lässt.«
»Kommst du zurück?«, flüstert Sophia, aber im selben Moment geht die Tür auf und Meinhardt und die Gäste kommen lachend und lärmend heraus auf den Hofplatz.
Hildebert steigt auf sein Pferd. Er sagt nichts, er reitet einfach durch das Tor hinaus, hebt die Hand zum Abschied und ist fort.
Kurz vor Weihnachten, im Jahr 1106 nach Christi Inkarnation, ist der Frost streng. Der See ist zugefroren, nur am Rand bleibt das Eis dünn und spröde. Dort rührt sich das Wasser unruhig,bahnt sich durch kleine Löcher einen Weg nach oben und bricht durch das Eis. Gelber, brauner, schwarzer Schilf, steif und hohl, leicht zu brechen. Jutta geht immer noch ihre tägliche Runde, auf nackten Füßen. Auf dem Weg zurück zum Gut bleibt sie ab und zu stehen und sieht auf den Pfad, den sie hinter sich ausgetreten hat. Der schwache, knirschende Laut, wenn sie die dünne Eisschicht oben auf dem Schnee durchtritt, das Rauschen der Vögel, die in einem Schwarm abheben.
Sophia friert, ganz egal, wie sehr sie die Glut in der Feuerstelle anfachen. Sie will die Fenster verhangen haben, aber Jutta bekommt keine Luft in der geschlossenen Stube und lockert Vorhänge und Läden. Vom ersten Stock aus kann man weit über die weißen Felder nach Westen sehen. Am Rand des Waldes hat jemand ein Feuer angezündet, das wie ein ferner und einsamer Stern glüht. Es wird Abend, der Himmel zieht seinen schwarzen Umhang dicht um sein frostrotes Gesicht. Jutta überlässt sich ihren Gedanken und starrt in die Dämmerung hinaus. Dann sieht sie es: Zuerst ähnelt es einem dunklen Tier mit vielen Beinen, aber näher beim Hof zerfällt es in eine Schar aus fünf Pferden mit fünf Reitern. Als sie auf den Hofplatz reiten, steht sie schon da.
Es ist einer der Männer der Kirche, der den Brief überbringt, und er weigert sich, ihn an andere als Jutta abzugeben, obwohl Meinhardt die Faust in der Luft ballt. Jutta öffnet den Brief sofort, noch auf dem Hofplatz, und fällt auf die Knie, bevor sie ihn auch nur bis zur Hälfte gelesen hat. Meinhardt glaubt, es sei aus Enttäuschung, aber dann erkennt er, dass der Erzbischof seine Erlaubnis gegeben hat.
II
Disibodenberg
1108-1123
Sponheim, Allerheiligen, 1. November 1108
Disibodenberg: Zwei Jahre lang hat Hildegard jeden Abend den Namen des Klosters wiederholt, nur für sich selbst. Sie kann sich nicht vorstellen, wie es dort aussieht, denn sie kennt keine Klöster. Sie flüstert, lauscht, wartet. DISI ist der Ruf eines Vogels, ein Frühlingstag, an dem der Bach nach und nach aufplatzt und durch die Felder tost, Gras und Erde in seinem verschleierten Gefolge mitreißt.
DI DI DI DI DI DI DI DI DI DI DI DI DI
SI SI SI SI SI SI SI SI SI SI SI SI SI
BODEN
ist der Geruch nach Erde und Stein, nach Juttas schwarzen Wollsachen, ein tiefer, bohrender Ton vom Nasenloch bis zum Schädel, ihre langsamen Schritte.
BERG
ist eine kühle Brise, Hildeberts schwere Schritte, er ist ein paar Meter vor ihr, sie sind auf dem Weg den Hang hinauf in einem Sommer, der nach Gras duftet, nach raschelnden, flüsternden Kornfeldern, nach Staub von einem Wagen, der mit jemandem wegfährt, während Hildegard mit viel zu vielen Sachen am Leib dasteht und winkt und weint und nicht weiß, warum.
2
Allerheiligen, es soll der Toten gedacht werden, und Jutta und Hildegard sollen für diese
Weitere Kostenlose Bücher