Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
tragische Welt sterben. In der stillen Kammer des Todes, in der monotonen Einsamkeit kann Gott klarer strahlen als hier, wo das konstante Summen und die Unruhe aller Dinge die Gedanken verschleiert und die Sinne verschließt. Zuerst sieht man sich selbst, gespiegelt in der zugemauerten Tür, hat Jutta gesagt, sodann verschwindet das eigene Gesicht, und da begegnet man Gott, mit Augen so rein wie die eines Neugeborenen . Da ist man der Ewigkeit in Gottes Reich näher, da wendet man dieser flüchtigen Welt den Rücken zu, die nichts anderes ist als ein langgezogener Atemzug, der schon bald erstirbt.
Hildegard wird vor Sonnenaufgang geweckt.
»Auf, Hildegard«, flüstert Jutta, und Hildegard braucht ihre Augen nicht zu öffnen, um zu wissen, dass Jutta das schwarze Kleid schon angezogen hat, das sie für den Tag genäht hat. Der grobe Stoff streift ihre Wange. Juttas Haut hat an diesem Morgen keinen Duft an sich, nur der weiche Geruch der Talgkerze und ein Anflug von neuen Wollsachen umgibt sie. Sie steht neben dem Bett, ohne sich im Geringsten zu bewegen, während Hildegard sich setzt und die Felldecke um ihren Körper zusammenzieht.
»Ich habe geträumt«, beginnt sie, aber Jutta legt einen Finger über die Lippen.
An diesem Morgen sollen sie schweigen, daran erinnert sie sich jetzt wieder. Auch Juttas Hände haben keinen Duft, das ist fremd und unnatürlich, sodass Hildegard sich auf die Knie hochzieht, indem sie sich an ihrem Arm festhält, die Nase in den Ärmel drückt. Sie zieht einen schwachen Duft nach Getreide aus dem Stoff, haucht ihn mit ihrem eigenen, süßen Atem wieder aus.
Jutta isst nichts, überwacht aber Hildegard, die auf der Bank sitzt und Grütze mit Fleischstücken isst. Das Kind hat seinen schwarzen Stein in der Hand, sie spielt, er ist ein Pferd. Ab und zu lässt sie ihn mit von der Grütze essen, ab und zu reibt sie ihn an ihrer Wange. Hätte Jutta ihr nicht auferlegt zu schweigen, würde Hildegard ihr von dem Traum erzählen und noch einmal nach der Reise fragen. Und Jutta hätte geduldig zugehört, mit ihrem ausdruckslosen Gesicht. Vielleicht hätte sie den Traum kommentiert, vielleicht die Fahrt nach Disibodenberg und das Ritual noch einmal erklärt.
Der Wagen wird angespannt, noch bevor Hildegard mit dem Essen fertig ist. Sie will sofort hinaus und die Pferde begrüßen, aber Jutta hält sie zurück und zeigt auf die halbleere Schale, damit sie versteht, dass sie nichts übrig lassen darf.
Die Fleischstücke sind bleiche Inseln in der Grütze, sie taucht sie mit dem Löffel unter und lässt sie in der milchweißen See untergehen. Fleisch ist für die Schwächlichen und Kranken, nur Wild ist etwas anderes oder Huhn im Teig, wie es der Koch zubereitet. Jutta isst nie Fleisch, sie hat harte Knochen und glatte Haut. Und Hildegard freut sich darauf, selbst nicht länger schwächlich zu sein, darauf, dass das Gebet sie für immer heilen wird, denn Jutta hat angedeutet, dass so etwas geschehen kann. Als sie vor zwei Jahren nach Sponheim geschickt wurde, sagte ihre Mutter, dies sei die Hoffnung, auf die sich alle stützen werden. Sie kratzt gehorsam die Schale aus, schluckt jeden einzelnen Mundvoll, ohne das Gesicht zu verziehen. Sie dankt Gott still für jeden Bissen, wie Jutta es ihr beigebracht hat.
Danke, kauen, kauen, danke, kauen, kauen, danke, kauen, kauen, danke, kauen, kauen.
Das Fleisch ist weich zwischen den Zähnen, es wächst mit seinem salzigen und säuerlichen Geschmack, sodass sie es mit dem hintersten Teil der Zunge hinunter in den Hals schieben muss. Jutta steht still am Tisch mit dem Umhang über dem Arm. Sie ist ernst und ängstlich, begreift besser als das Kind die Bedeutung dieses Tages. Hildegards schwarzes Kleid gleicht Juttas, es kratzt, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Haut sich daran gewöhnt hat, behauptet Jutta. Trotzdem hat sie Hildegard einen Unterrock mit langen Ärmeln aus weichem Leinen gegeben. Als Hildegard nach Sponheim kam, hatte Jutta nie zuvor eine so vornehme Garderobe wie die des Kindes gesehen. Man konnte glauben, sie sei eine Königstochter, dachte Jutta, während sie mit Sophia den Inhalt der Reisekiste bewunderte. Anfangs ließ sie sie noch in ihren feinen Kleidern herumgehen, aber nach und nach tauschte sie ihre Sachen aus. Es war, als ob die Kleine es bemerke, und Jutta freute sich darüber, wie leicht das Kind verzichten zu können schien. Der erste Winter war dennoch hart. Hildegard weinte jeden einzelnen Tag, und nachts
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