Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
rief sie im Schlaf nach ihrer Mutter und nach Agnes. Jedes Mal, wenn sie einen Hund oder eine Katze oder ein Pferd sah, meinte sie, sie ähnelten ihrem Falk, und war Meinhardt beim Herzog gewesen, konnte es ihr einfallen ihn zu fragen, ob er mit ihrem Vater gesprochen habe.
Am ersten Tag der Weihnachtszeit war sie überaus widerspenstig und spähte jeden Augenblick zum Fenster hinaus. Als es dunkel geworden war, war sie untröstlich, und erst da ging es Jutta auf, dass Mechthild beim Abschied versprochen hatte, zu kommen und das Fest mit ihrer jüngsten Tochter zu feiern.Jutta war wütend über ein so dummes Versprechen, ließ die Kleine aber ausnahmsweise einmal nicht alleine einschlafen. Sie hielt ihre Hand, bis sie eingeschlafen war. Nach diesem Tag ging es aufwärts. Von Zeit zu Zeit bemerkte Jutta, dass Hildegard über die Felder blickte, besonders bei Festen und an Feiertagen, aber sie war leicht zurückzuholen und weinte nur noch selten. Stattdessen klammerte sie sich an den schwarzen, pferdeförmigen Stein – nachts schlief sie mit ihm in der Hand ein, tagsüber schob sie oft die Hand in die Tasche, um sich zu vergewissern, dass sie ihn nicht verloren habe. Jutta ließ sie ihn haben. Ein jeder muss mit leeren Händen ins Kloster gehen, denn dort darf niemand etwas besitzen, aber in Sponheim gelten andere Regeln.
Hildegard sieht nach unten auf den Tisch, während sie isst. Es wird ein langer Tag für die Kleine werden, und Jutta bittet den Herrn, dem Kind und ihr Kraft zu geben. Es ist erst einen Monat her, als Jutta plötzlich wieder von der Schwere all dessen übermannt wurde, was sie aufgeben muss.
Es war ganz überraschend für sie gekommen. Sie hatte auf der Steintreppe vor dem Haupthaus gestanden und über das Tal geschaut. Es war ein kalter Morgen Anfang Oktober, das Gras war von Tau überzogen, das Licht legte sich über die Bäume wie Öl auf das Wasser.
Vielleicht war es die Schönheit, vielleicht der vertraute Laut der Kuhglocken und das Hopphopp des Hütejungen. Vielleicht die plötzliche Kälte, die Luft, die eine Mauer aus Feuchtigkeit war, die ganze grüne Welt, geschmückt mit roten und schwarzen Beeren und buntem Laub, vielleicht der Gedanke an den langen Schweif früherer Morgen, der sich aus der Kindheit voran bis zu diesem unbedeutenden Augenblick schlängelte undsich mit plötzlicher Wehmut selbst erschuf. Der Schweif wirbelte die Gedanken voller Erinnerungen durcheinander, Erinnerungen an Alltag und Festtage, Morgen, an denen sie von brüllenden Milchkühen geweckt worden und dem Tag unbekümmert entgegengetreten war. Die Zeit vor dem Tod ihres Vaters, vor dem Blutsturz, der die Lebenskraft aus dem großen Menschen saugte. Es war der Gedanke an all das, was der Mensch aufgeben muss, das, was jeder verlieren muss. Der plötzliche Kummer war aus der Landschaft geströmt, hatte die Tiere und die Tage und den Wechsel der Jahreszeiten mit sich gezogen, hatte Freude und Trauer, Blut und Galle, Speichel mit sich gezogen, sodass sie kurz davor war, umzufallen. Zweifel hatten sie ergriffen und ein plötzlicher Drang, den Herrn anzuflehen, ihr eine andere Stimme zu geben, der sie folgen sollte, einen anderen Ruf als den des Klosterlebens. Sie lief so schnell sie konnte hinunter zur Kapelle, holte eine Haarlocke unter dem Tuch hervor und zog so fest daran, dass die Kopfhaut brannte. Das Schlimmste war nicht, dass der Alltag sie mit kindlichen Versprechungen von Güte und kommender Fruchtbarkeit lockte, viel schlimmer war das jungenhafte Gesicht, das sie hartnäckig verfolgte. Es war Wilhelms Gesicht, er sah sie beharrlich mit demselben verletzten Blick an wie damals, als sie ihm erzählte, dass sie das Versprechen nicht halten konnte, das sie so töricht gegeben hatte.
Jutta verliert sich in Gedanken, während sie Hildegard ansieht, die den Blick nicht hebt. Ihr Kopf ist voller Luft, die von hinten auf die Augen drückt. Sie hat die ganze Nacht über fast nicht geschlafen, gespannt auf die Abreise ins Kloster, aber nicht länger im Zweifel. Sie ist eine Vereinbarung mit Gott eingegangen, und es geht dabei nicht nur um sie selbst. Wenn sienicht die Verantwortung für Hildegard auf sich nähme, wäre es unmöglich zu wissen, wie es dem sonderbaren Kind ergehen würde. Hildegard ist gehorsam, sie tut, was Jutta sagt, sie lauscht aufmerksam, und sowohl zu Psalmen als auch zu Bibelgeschichten hat sie ein inniges Verhältnis. Manchmal wirkt sie eigensinnig, aber niemals trotzig, und Jutta
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