Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
muss nur selten harsche Worte benutzen, um sie anzuleiten. In der ersten schweren Zeit erschien sie ihr passiv, aber jetzt weiß sie, dass das Kind ein reichhaltigeres inneres Leben hat als die meisten. Manchmal sitzt sie stundenlang in sich gekehrt da, sie bewegt ab und zu ihre Hände und spricht leise mit sich selbst. Die Heiligen sind ihre Freunde, sie führt Gespräche mit ihnen, und darin kann Jutta nichts Böses sehen. In Bermersheim hatte Mechthild ihr damit gedroht, über ihre merkwürdigen Erscheinungen zu schweigen und das Gerede über ›Das Lebende Licht‹ sein zu lassen. In Sponheim ermahnt Jutta sie, nur mit ihr und sonst niemandem darüber zu sprechen. »Du gehörst dem Herrn«, hat sie zu dem Kind gesagt, »deine Stimme ist die Gottes in alle Ewigkeit, sie gehört nicht dir selbst.«
Während Hildegard isst, wird der Wagen auf dem Hofplatz aufgetakelt, der Stallbursche schleift den Reisesack über die Erde. Ginge es nach Jutta, so würde sie dem neuen Leben mit ganz und gar leeren Händen begegnen. Aber Sophia hat darauf bestanden, dass sie ihr eigenes Leinen mitbringen und hat ganz gewiss noch weitere Sachen in den Sack geschmuggelt, von denen sich Jutta später trennen und die sie an die Armen geben muss. Jetzt gerade interessieren die heimlichen Einfälle ihrer Mutter sie nicht, sie will die Gedanken zu einem kleinen, harten Wollknäuel knüpfen und nur an das Gebet und die Reise denken. Aber in einem unaufmerksamen Augenblick rollt das Knäuel davon und zieht das Ende flatternd hinter sich her,rollt zurück zu dem Morgen auf der Steintreppe, wo sie das letzte Mal so verzweifelt weinte, rollt zurück zu Wilhelms Augen, zu dem Versprechen und dem Herzen und den eigenwilligen Wegen des Körpers.
Ein Versprechen an Gott tilgt ein jedes Versprechen zwischen Menschen, das versicherte ihr Vater Thomas, als sie ihr Herz vor ihm erleichterte. Und da niemals eine offizielle Verlobungsvereinbarung getroffen worden war, sondern das Versprechen nur Kulmination der Torheiten zwischen zwei Kindern war, gab es nicht einmal jemanden, der zu wissen brauchte, wie es sich verhielt.
Entgegen allgemeinem Brauch hatten Sophia und Graf Stephan keine Eheabsprache für ihre Tochter getroffen, als sie klein war. Obwohl man meinen konnte, es sei nur eine Frage von Formalitäten, da Juttas Schönheit und Stand ihr keinen Mangel an Bewerbern bescheren würde, konnte man es auch als Zeichen dafür sehen, dass sie für das Klosterleben bestimmt war. Dem hatte niemand einen Gedanken geschenkt, bevor sie in dem Winter, als sie dreizehn wurde, erkrankte und daniederlag und um ihr Leben kämpfte. Wenn sie an diesem Abreisetag an ihr Krankenlager denkt, ist es, als habe jemand die große Schafschere genommen und einige Wochen weggeschnitten, nur um ein fernes und nacktes Gefühl zu hinterlassen, nicht in dieser Welt zugegen gewesen zu sein. Wo sie sich auch befand, welch sonderbare und unheimliche Träume sie auch quälten, sie war immer mit gefalteten Händen zu Bewusstsein gekommen. Das hatten alle, die an ihrem Bett wachten, bemerkt. Als sie sich allmählich wieder erholte, bat sie ihre Mutter, einen Boten zum Priester zu schicken. Sie wollte unter vier Augen mit ihm sprechen, und Sophia fügte sich dem Wunsch ihrerTochter, erleichtert darüber, dass das Fieber auf dem Rückzug war. Als Jutta und Vater Thomas allein im Krankenzimmer waren, kniete der Priester neben ihrem Bett nieder, um mit ihr zusammen zu beten.
»Sollte ich leben«, sagte sie, »so gebe ich mein Leben dem Herrn.«
Vater Thomas verharrte lange, ohne zu antworten. Dann legte er seine Hände über ihre und nickte. Er ermahnte oder belehrte sie nicht, weder über Erlösung noch über Entsagung.
Als sie wieder zu Kräften kam und mit Sophia an dem einen und der Magd Kunlein an dem anderen Arm einen Spaziergang auf dem Hofplatz unternehmen konnte, dankte sie Gott für jeden Schritt, den sie machte, dankte ihm für das Leben und dafür, sie mit so klarer Stimme zu rufen.
Sophia beugte den Nacken und hörte zu, ohne etwas zu sagen, als Jutta ihr von ihrem Versprechen an Gott erzählte. Mehr als einen Tag und eine Nacht lang sagte sie kein Wort, aber nach der Abendmahlzeit des folgenden Tages holte sie das Kristallkreuz aus seinem Schrein und hängte es Jutta um den Hals. Zuerst ruhte es kalt und schwer auf der Haut, aber bald nahm es die Wärme des Körpers entgegen, und Jutta war der Gedanke gekommen, dass es genauso mit ihrem eigenen Entschluss war –
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