Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Schulter auf den harten Steinboden, tastete nach etwas, das ihr wieder auf die Beine helfen konnte, tastete und sank tiefer und tiefer in die alles umfassende Dunkelheit, Erde und Salz und ihr eigenes, aufgelöstes Gesicht. Sie schlug mit der Schulter auf, und eine weiße Taube landete vor ihrem Gesicht, eine Explosion aus Licht, Daunen, die wie ein warmer Regen über ihre Hände fielen. Komm, Taube, flüsterte sie, führ mich hier heraus . Aber die Taube verschwand, und sie wurde wieder von Angst gepackt, erstickender, feuchter Angst, ein stinkender Fluss aus Schlamm und Schweiß und Mörtel, der die Kammer durchzog. Komm zu mir als Taube, komm nicht als Rabe oder Krähe, große, plumpe Vögel mit halbmondförmigem Schnabel und schuppigem Fuß.
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Als die letzten Totengebete für Hildegard und Jutta gesprochen waren und Uda sich von den Verwandten der Mädchen verabschiedet hatte, wollte sie Brot, getrocknetes Fleisch und Milch für das Kleine holen. Die Zeit, zu der für gewöhnlich gegessen wurde, war längst vorüber, aber Uda brachte es nicht über sich, das Kind nach einem solch langen und anstrengenden Tag hungrig ins Bett gehen zu lassen.
Jutta und Hildegard haben beide ihre eigene Zelle. Juttas ist nach der Einmauerung ganz und gar ohne Tür, wohingegen Hildegards Klause aus drei Räumen besteht: Die eigene kleine Schlafkammer des Kindes, die an das Kirchenschiff stößt, Udas noch kleinere Schlafkammer und ein Gelass. Vom Gelass aus gibt es ein vergittertes Fenster hinein zu Jutta. Jutta kann das Fenster mit schweren Holzläden öffnen und verschließen, und durch dieses Fenster soll das Kind seine Unterweisungen erhalten. Daneben ist ein kleineres Fenster mit einer Drehvorrichtung, in die Uda Juttas Essen stellen kann, und Jutta kann mit ihrem Topf quittieren. Zur Kirche hin haben die Zellen beider Mädchen ein Fenster, von wo aus sie den Hochaltar sehen und der Messe folgen können. Durch das Kirchenfenster kann Jutta außerdem beichten und mit den Pilgern sprechen, die sie anziehen wird. Da das Haus auf der Nordseite der Kirche gebaut ist und der Wind vom Tal und vom Fluss heraufweht, hatte Hildebert darauf bestanden, dass es in allen Räumen Feuerstellen geben solle. Jutta hatte sich dem verweigert und hatte, wie in anderen Punkten, ihren Willen bekommen. Der Kompromiss ist eine große Feuerstelle im Gelass an der Wand geworden, die nicht an Juttas Kammer grenzt. Sophia hatte Jutta vorgeschlagen, einen Garten anlegen zu lassen, der an ihre Kammer stieß, sodass sie, ohne die Isolation zu brechen, im Sommer die Sonne würde genießen und ihre Beine weiter strecken können, als es die enge Zelle zulässt. Jutta wollte davon nichts hören. Die einzige Art, auf die man Zugang zu Juttas Kammer bekommen kann, ist, die Mauer einzureißen, und das wird nicht geschehen, bevor ihre Seele endgültig bereit ist, diese Welt zu verlassen. Hildegard und Uda haben einen kleinen Innengarten bekommen, und mit dem großen Schlüssel, der an Udas Gürtel baumelt, kann sie die Tür öffnen und das Kind in die meisten Bereiche des Klosters mitnehmen.
Uda wollte Essen holen, konnte aber den Küchenmeister nicht finden. Zuerst wartete sie lange vor dem Küchenhaus, dann ging sie ins Warme und setzte sich an die Feuerstelle. Es war ein schrecklich kalter Tag, und ihre Füße schmerzten. Als sie sich aufgewärmt hatte, war er immer noch nicht aufgetaucht, und so hatte sie den Küchenschreiber gebeten, der auf das Feuer achtete, das zu finden, was sie brauchte. Sie hatte das Essen in ihre Schürze gelegt und hielt das Bündel mit der einen Hand zusammen, während sie in der anderen den gefüllten Milchkrug und die Lampe balancierte. Sie dachte daran, dass sie Hildegard gerne aufpäppeln würde. Und Jutta gleich mit, wenn sie schon dabei war, aber da musste sie mit Vorsicht zu Werke gehen. Sie wird nicht klug aus der frommen Entsagung, die Jutta zelebriert. Aber dass ein Kind essen muss, um zu wachsen, das kann ein jeder verstehen.
Kaum hatte Uda den Schlüssel ins Türschloss gesteckt und das Bündel auf den Tisch geleert, als das Kind auf dem Boden seiner Kammer angekrochen kam. Erst konnte sie den zusammengekrümmten Klumpen gar nicht sehen, der im schwachen Schein der Feuerstelle aus dem harten Boden zu wachsen schien. Das Mädchen war durchgefroren, in Tränen aufgelöst, die Haare von Rotz und Erde und dem Stroh des geflochtenen Kranzes verfilzt. Ihre Ärmelbündchen waren triefend nass, als habe sie daran
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