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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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lange bevor er zu sprechen beginnt. Jacobs Worte spritzen wie Wein aus einem undichten Fass, das dem inneren Druck nicht standhalten kann. Er bekräftigt, es sei wahr, was das Kind gesagt hat. Hildegard hat so klar gesprochen, als sei sie an jenem unglückseligen Abend selbst dabei gewesen, damals, bevor Erzbischof Ruthardt die gottlosen Kanoniker zum Tor hinausjagte. Es war ein Kanoniker, flüstert er gegen das Gitterfenster, und Jutta befreit ihr Ohr von dem Schleier, um ihn deutlich hören zu können. Bruder Jacob schweigt, er will Jutta damit verschonen, eine ausführliche Schilderung der Sünde hören zu müssen, aber sie lässt ihn nicht davonkommen.
    »Infolge der Erzählungen legten die ersten gottesfürchtigen Männer, die auf den irischen Wandermönch, den heiligen Disibod, folgten, ihre Wohnstätten als Zellen wie in einem Bienenkorb an. Anfangs lebten sie ein demütiges Leben, Seite anSeite in Stille und Genügsamkeit. Dennoch erhielt mit der Zeit der Teufel Zugang zum Berg. Die Alten starben, neue kamen hinzu, und die Veränderung geschah auf die gleiche Weise, auf die Grütze verkocht, wenn man sie nicht sorgsam umrührt. Eine schwarze und harte Schicht bildet sich um das höllische Feuer herum, das sich unsichtbar über dem Rest der Grütze wie ein bitterer und verdorbener Geschmack ausbreitet. Die Kanoniker wurden faul und gierig. Statt selbst ihre Felder zu bestellen und die Früchte einzubringen, Netze im Fluss auszuwerfen und Vieh zu halten, das ihnen Nahrung verschaffen konnte, ließen sie sich von den Bauern das Beste aus deren Ställen und von deren Feldern bringen. Sie bereiteten das Essen kaum noch zu, sie lebten wie in einem Schweinestall und hielten das Fasten nicht heilig. Disibodenberg wurde zu einem Ort, an dem es nach Mist und Abfall stank, an dem alle die gleiche verpestete Luft einatmeten und keiner der Sünde entging.«
    Jacob hält inne, er reibt sich das Kinn und wartet, aber Jutta drängt ihn fortzufahren.
    »Es ging sogar so weit, dass kein Bauer mehr seine Tochter mit Waren zum Kloster schicken wollte«, sagt er und schweigt wieder. Versteht Jutta die Bedeutung hinter seinen Worten, oder soll er es deutlich sagen? »Sie wollten nicht einmal mehr Brennholz sammeln, sondern forderten einen alten, hinkenden Mann, der früher einmal in den Wäldern gearbeitet hatte, auf, sie mit Reisig und Knorren zu versorgen. Der Alte konnte den Weg hinauf zum Kloster, beladen mit der Last, nicht bewältigen, und da er keine Söhne hatte, sah er keinen anderen Ausweg, als seine älteste Tochter zu schicken. An diesem Abend sandte der Satan eine Schar junger Teufel mit der Jungfrau über den Hofplatz. Das Gebäude, das nun als Weberei wieder errichtet ist, stand lange unbenutzt und verfiel. Es war als Scheune mitTenne angelegt, aber die Faulheit hatte alle Tatkraft aufgezehrt. Es war ein älterer Mönch, der vor langer Zeit aus Turin gekommen war, ohne dass ihn jemand gekannt hätte. Dem Vernehmen nach soll er die Mädchen im …« Jacob hält inne. Wie kann er Jutta von Hurenhäusern berichten? Er erzählt stattdessen, dass der betrunkene Turiner Mönch mehrere Male in den frühen Morgenstunden auf dem Weg den Berg hinauf gesehen wurde, dass er gesehen wurde, in der Nähe der »Häuser der Mädchen … ja, ihrer Häuser, und wie …«
    Jutta bedeutet ihm zu schweigen, und er ärgert sich über sein ungezügeltes Mundwerk. Er kann sie in der Dunkelheit hinter dem Gitter undeutlich ausmachen, ihr Gesicht leuchtet unter dem Tuch. Bruder Jacob krümmt sich. Er war selbst skeptisch, Frauen in einem Mönchskloster wohnen zu lassen, aber jetzt schämt er sich darüber, dass der Zweifel anscheinend nur Folge seiner eigenen sündigen Gedanken war. Juttas Haut leuchtet nicht wie Fleisch, sondern wie die Goldplattierungen am Altarretabel, und er wagt es nicht, ihrem Blick zu begegnen. Sie hat ihn gebeten zu kommen, weil er es ist, der die Geschichte des Klosters niederschreibt, und weil er in dem Ruf steht, klar zu sprechen. Aber jetzt kann er sich kaum ausdrücken. Lange sitzen sie schweigend da. Er faltet seine Hände und singt. In der Zeit meiner Not suche ich den Herrn; meine Hand ist des Nachts ausgestreckt und läßt nicht ab; denn meine Seele will sich nicht trösten lassen.
    Jutta stimmt ein, ganz leise. Es liegt weniger als ein Meter zwischen ihnen, und es ist, als ginge ihr Atem wie ein milder Wind über sein Gesicht. Danach nickt sie ihm zu und bittet ihn, weiter zu erzählen. Der Psalm hat

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