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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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seine Stimme gereinigt und seine Scham getilgt. Schweigend hört Jutta zu, während er erzählt, wie der Turiner Mönch die Tochter des Holzfällersbat, den Karren in die unbenutzte Scheune zu schieben und das Brennholz dort abzuladen. In der Dunkelheit hatte er sich an ihr vergangen, und nach dem Akt hatte er sie mit bloßen Händen erwürgt. Um seine Untat zu verbergen, hatte er ihren entseelten und verstümmelten Körper auf den Handkarren ihres Vaters geworfen, sie mit Tüchern und Reisig bedeckt und den Karren hinüber zur Nordseite gezogen, wo er ihn den Abhang hinuntergestürzt hatte. Natürlich war es entdeckt worden, aber nicht sofort. Die Bäume wuchsen dort sehr dicht, und erst, als einer der Dorfbewohner Hasenfallen aufstellen wollte, fand er die Leiche. Der Holzfäller hatte verzweifelt nach seiner Tochter gefragt, aber der Turiner Mönch behauptete frech, er habe ihr persönlich mit dem Brennholz geholfen und sie dann nach Hause geschickt. Dass er daraufhin nicht sogleich geflüchtet war, zeugte entweder von Dummheit oder Bosheit, denn er zeigte zu keinem Zeitpunkt Reue, auch nicht, als ein Küchenjunge, der ihn in das Gebäude hatte gehen und später mit vollbeladenem Wagen wieder herauskommen sehen, gegen ihn Zeugnis ablegte. Bruder Jacob schweigt einen Augenblick, bevor er fortfährt, von dem Prozess zu erzählen, aber Jutta unterbricht ihn, das Urteil interessiert sie nicht im Geringsten. Sie beten gemeinsam. Er darf niemandem erzählen, worüber sie gesprochen haben, das muss er ihr geloben, und er legt die Hand auf sein Herz.
 

 

11
      
Jetzt, da das Frühjahr gekommen ist, ist die Luft voller Düfte: Kiefernnadeln und Harz, weiches Moos und ein Heer von Siebensternen, das auf dem Waldboden vorrückt. Der Fluss rauscht,Vogelchöre schrillen, nachts raschelt es entlang der Mauer. Der Ruf des Kuckucks, der Schrei des Hasen, wenn der Fuchs die Zähne in seinen Rücken schlägt.
    Die Bauarbeiter haben Zelte aufgeschlagen, den ganzen Tag über sind Hacken und Hämmer zu hören, Sägen und Rufe. Reisende Arbeiter kommen, das Werkzeug um den Leib geschnallt, um Arbeit zu finden. Der Abt muss sie allesamt für gut befinden, aber er versteht nichts von Bauarbeit und schätzt sie nur nach ihren Gesichtern und starken Armen ein. Nachts machen sie einen solchen Lärm, dass der Abt aufstehen und zur Ruhe mahnen muss. Manchmal verschwinden sie in Scharen den Hang an der Seite des Berges hinunter, um erst gegen Morgen wieder aufzutauchen. Jutta gefällt das Durcheinander nicht. Sie lässt sowohl den Abt als auch den Prior holen und weist sie zurecht. Uda lauscht an Hildegards Fenster. Der Abt weiß sich keinerlei Rat, er beugt den Kopf vor der frommen Jutta, aber in der Nacht ist der Radau wieder der gleiche. Die Sünde hat sich in der Erde unter dem Kloster eingenistet, sagt Jutta, sie brodelt wie giftiger Dampf und bringt selbst den stärksten Glauben ins Wanken. Der Abt versucht zu erklären, dass die Bautätigkeiten zügiger voranschritten, als man zu hoffen gewagt habe, und meint, dies müsse ein Zeichen für das Wohlwollen des Herrn sein. Jutta hält dagegen. Das Haus, das auf schwachem Fundament erbaut sei, werde früher oder später zur Erde stürzen. Sie gibt nicht nach, bis der Abt den Baumeister dazu gebracht hat, die Schlimmsten wegzuschicken, und den Verbliebenen in der Messe das Seelenheil versprochen hat, wenn sie sich mit dem nächtlichen Lärmen zurückhalten. Zunächst funktioniert es, aber als der August seine dichten, warmen Nächte über Disibodenberg ausbreitet, geht es wieder los. Erst im November wird es ruhig. Da ist die Kirchenmauer um mehrereMeter gewachsen, etliche Holzhäuser sind fertig, und die Szene vom Tag des Jüngsten Gerichts ist am Eingangstor befestigt.
    Dennoch ist Jutta nicht zufrieden. Sie schreibt an den Erzbischof und bittet ihn, zur Messe zu kommen. Disibodenberg muss noch einmal gereinigt werden. Als Meinhardt gleichzeitig verspricht, der Kirche einen prachtvollen Seitenaltar zu schenken, wird die Messe ohne weitere Diskussion abgehalten.
 
    Zur Weihnachtszeit, als Hildegard zwölf Jahre alt ist, kommen viele Pilger zum Disibodenberg. Sie sitzen geduldig im Kirchenschiff und warten, bis Jutta den Vorhang zur Seite zieht und für sie betet. Einzelne, die ein streng persönliches Anliegen haben und von großen Versuchungen geplagt werden, warten den ganzen Tag lang, um sicher zu sein, sich Jutta ohne Zuhörer anvertrauen zu können. Der Abt schlägt vor, dass sie

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