Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
verständnislos.
Sie wusste, was sich im Frankenreich seit dem unrühmlichen Ende ihres Vaters zugetragen hatte, aber ihr Geist war wie ausgehöhlt.
»Ludwig Outremer«, sagte Arvid schlicht.
Er wandte sich ab, stützte den Kopf des sterbenden Taurin.
Und Gisla begriff.
Im Januar dieses Jahres war König Rudolf gestorben - jener König, der ihrem Vater die Krone gestohlen hatte. Doch er hatte keinen Sohn, der sein Erbe werden konnte, ihr Vater hingegen schon. Ludwig - Outremer genannt, weil er von jenseits des Meeres kam. Seine Mutter Ogiva, König Karls zweite Frau, war mit ihm nach England geflohen und hatte in all den Jahren für das Ziel gelebt, ihren Sohn zum König zu machen. Und nun, nach Rudolfs Tod, hatte sie es erreicht, nicht dank Intrigen oder Kämpfen, sondern weil es sonst niemanden gab, dem man die Krone aufsetzen konnte. Ja, die Mächtigen des Landes hatten Ludwig Outremer ins Frankenreich zurückgeholt, und nun war er der neue König. Gislas Halbbruder. Arvids Onkel. Für sie, die ihn nie kennengelernt hatte, war er ein Fremder. Für ihn ein Feind.
Eben hatte sie sich so stark gefühlt, nun sackte auch sie auf die Knie. Bläschen hatten sich in Taurins Mundwinkeln gesammelt, färbten sich langsam, ganz langsam rot; auch der Tod kam nicht plötzlich, sondern so zögerlich wie die Nacht oder der Herbst. Gisla konnte sich nicht wieder erheben.
»Die Männer König Ludwig Outremers haben mich gejagt«, murmelte Arvid. »Sie waren es, die mich verwundet haben. Und sie haben mich bis hierher verfolgt.«
»Aber warum ...«
»Wie ich schon sagte - weil sie mich töten wollten.«
»Großer Gott! Ich begreife einfach nicht ...«
Sie brach ab, weil nun auch Taurin etwas zu sagen versuchte, doch aus seinem Mund kamen nur Blut und Speichel.
»Ludwig Outremer genügt es nicht, dass er die Krone der Francia trägt. Außerdem will er das Nordmännerland zurück - es also wieder seinem Herrschaftsbereich einverleiben, zu dem es vor Rollos Zeit gehörte ...«, bekundete Arvid an seiner statt.
Gisla schüttelte den Kopf. »Aber nicht zuletzt dank Rollos Sohn Wilhelm ist Ludwig überhaupt König!«, rief sie. »Soweit ich weiß, hat Wilhelm sich bei den Großen des Reichs dafür eingesetzt, dass man Ludwig zum König macht. Ohne ihn hätte er nie ins Frankenreich, nie nach Laon zurückkehren können! Und jetzt will er ihm sein Land rauben?«
Arvid schwieg, aber sie konnte sich seine Antwort denken. Dankbarkeit gehörte nicht zu den Eigenschaften eines machtbesessenen Königs. Jemand, der als Kind aus der Heimat verjagt wurde, strebt keine Gerechtigkeit an.
»Ja, er will das Nordmännerland zurück«, hörte sie jetzt Taurin Arvids Worte wiederholen, die Stimme schwach nur, aber deutlich vernehmbar.
Gisla konnte sich der Wahrheit nicht länger blindstellen: Die Wahrheit war, dass Ludwig Outremer Wilhelm nicht als Verbündeten, sondern als Gegner betrachtete. Und dass auch Arvid ein solcher Gegner, wenngleich ein viel harmloserer, sein könnte - Arvid, der Sohn von Gisla und somit der Sohn der Frau, die mit Rollo verlobt gewesen war. Was machte es nach all den Jahren für einen Unterschied, dass die Ehe nie zustande gekommen war! Was, dass Rollo betrogen worden war und die falsche Frau zugeführt bekam! Was, dass nicht der mächtige Herrscher des Nordmännerlandes Arvid gezeugt hatte, sondern ein Gesetzloser wie Thure!
Trotz allem war Arvid königlichen Blutes. Und er war halb Franke, halb Nordmann. In Zeiten, da Grenzen täglich verrückten und das Land ein stets umkämpftes und darum blutdurchtränktes war, waren Menschen wegen geringerer Anlässe gemeuchelt worden. König Ludwig hatte erfahren, dass Gisla einen Sohn hatte, sah in ihm nicht den Neffen, sondern eine Gefahr, und schickte seine Meuchelmörder, auf dass alle Ansprüche, die Arvid selbst oder andere in seinem Namen auf das Nordmännerland stellen konnten, in seinem Blut ertränkt würden.
Noch mehr Worte traten über Taurins Lippen: »Ich bin schuld ...«
Fragend blickte Gisla Arvid an. Sie sah, wie Tränen in dessen Augen traten.
»Er hat mich immer beschützt«, erklärte er stockend. »Er hat dafür gesorgt, dass ich wieder ins Kloster gehen konnte. Und als Ludwig Outremer König wurde, war er davon überzeugt, dass ich als dessen Verwandter unter seinem Schutz stand. Er ist selbst nach Laon geritten, um ihm von mir zu berichten und die Wahrheit über dich zu erzählen. Er hat es nur gut gemeint, dachte, er ermögliche mir auf diese
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