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Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Julia Kröhn
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den Kopf, dass sie jetzt erst zur Jagd geht.
    War sie nicht erst gerade von dort gekommen? Was hatte sie denn am frühen Morgen nach draußen getrieben?
    Doch als Runa später zurückkehrte, schlief Gisla bereits, und als sie vom leisen Quäken des Kindes wieder erwachte, dachte sie nicht mehr daran, sie danach zu fragen.
    Runa trug das Kind, als sie aufbrachen. Sie kamen nur langsam voran und mussten immer wieder rasten, damit Gisla sich ausruhen konnte. Sie verlor nicht mehr so viel Blut, doch ihr Milchfluss machte ihr Sorgen. Sie hatte genug, um den schlimmsten Hunger des Kindes zu stillen, aber zu wenig, um es ganz und gar zu sättigen.
    Der Kleine schrie nunmehr oft, und Gisla vermeinte manchmal, ihr Kopf müsste zerplatzen ob dieser Laute. Runa hingegen schienen sie nicht zu stören - zeugte das Schreien für sie nicht nur von Hunger, sondern auch von Lebensdurst.
    In den ersten beiden Tagen hatten sie es in Tücher gewickelt. Nun trug Runa es nackt auf ihrer Haut und schlang den Pelz um sie beide. Gisla wusste nicht recht, was sie damit bezweckte.
    »Muss man einen Säugling nicht fest umwickeln, damit er gerade wachsen kann?«, fragte sie unsicher.
    Doch Runa schüttelte den Kopf. »Noch wichtiger ist, dass er es warm hat, und kein Tuch ist so warm wie meine Haut.«
    Gisla war froh, dass Runa das Kind wärmte. Sie selbst, dessen war sie sich sicher, hätte es nicht gekonnt. Bei jedem Schritt, der sie von der vertrauten Siedlung fortführte, wurde ihr kälter. Sie blickte auf das winzige Geschöpf, wusste, dass sie ihren Lebensmut nicht aufgeben durfte, solange sie es nicht irgendwo in Sicherheit wusste, wo es behütet aufwachsen konnte, aber blieb verzagt. Was, dachte sie, wird die Zukunft uns bringen? Würde sie selbst oder das Kind jemals Laon sehen? Gisla wäre am liebsten aufs weiche Moos gesunken, um zu weinen. Sie wollte nicht mehr. Sie konnte nicht mehr. Ein weiterer Winter ohne Heimat war zu viel.
    Runa hatte es immer schwerer, Gisla anzutreiben. Immer langsamer wurden ihre Schritte im raschelnden Herbstlaub. Das Kind quäkte kläglich, der Wind pfiff.
    »Ich werde sterben«, flüsterte Gisla dem Wind zu, »nicht an diesem Tag, aber bald.«
    Sie verbrachten eine Nacht im Schilf, nur notdürftig geschützt, aber am nächsten Morgen lebte sie immer noch und dachte: Ich werde auch heute noch nicht sterben.
    Wie am ersten Tag wanderten sie die Küste entlang, später wählte Runa einen Weg ins Landesinnere. Gisla machte sich Gedanken darüber, warum sie diese Entscheidung traf - weil ihr der Anblick von Meer zu viel Heimweh bereitete oder weil im Landesinneren höhere Bäume wuchsen, die sie vor Wind und Wetter und vor aufdringlichen Blicken schützten? Runa trug das Kind fest an sich gepresst, und Gisla hörte sie nun oft mit ihm murmeln.
    »Du wirst es schaffen«, bestimmte sie immer wieder. »Du musst leben.«
    Aber Worte konnten keine Milch ersetzen, und Gisla sorgte sich, dass nicht nur sie, sondern auch das Kind sterben würde. Sie sprach ihre Ängste nicht aus, sagte sich stattdessen immer wieder, dass Runa das nicht zulassen würde, weil sie so willensstark war.
    Als sie am Nachmittag plötzlich aus der Ferne ein Dorf sahen, vermeinte Gisla kurz, dass es nicht zufällig dort stand, sondern dass Runa es kraft ihrer Gedanken hatte erstehen lassen.
    »Gott sei Dank!«, stieß sie aus und sank, am Ende ihrer Kräfte, auf die Knie.
    »Hoffentlich vertreiben sie uns nicht gleich wieder«, murmelte Runa indessen zweifelnd. Doch die Menschen, die vom Anblick der zwei fremden Frauen angelockt auf sie zugelaufen kamen, sahen sie zwar misstrauisch, aber nicht böse an. Gisla nahm das alles nicht mehr wahr. Noch ehe sie das Dorf erreichten, brach sie zusammen.
    Die Siedlung bestand aus einem halben Dutzend Höfen, und genauso viele Menschen waren ins Freie gekommen, blickten ihnen entgegen, aber wahrten noch Distanz. Runa ließ ihren Blick kreisen und sprach von allen Frauen schließlich jene an, die am rundlichsten wirkte, deren Augen am lebendigsten blickten und deren Wangen von gesundem Rot waren.
    »Bitte, wir brauchen Hilfe«, erklärte sie. »Ich werde so viel arbeiten wie nötig, ganz gleich, was es ist. Es gibt kaum etwas, was ich nicht kann. Doch meine Gefährtin und das Kleine brauchen eine Schlafstatt, Essen und Milch.« Sie zögerte kurz, dann fügte sie eine Lüge hinzu. »Wir sind Bäuerinnen«, bekundete sie. »Wir kommen von der Küste. Unsere Männer sind gestorben, und wir waren nicht
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