Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
Vom Netzwerk:
zugenommen. Ihr Doppelkinn schien förmlich aufgebläht vor Entrüstung - weniger, weil die Äbtissin die Nonnen zu einer Unzeit zusammenrief, sondern weil sie es zuvor nicht mit ihr beredet hatte. Ungleich ruhiger wirkte die Schwester Cellerarin. Die Äbtissin hatte nichts anderes von ihr erwartet. Sie hatte noch nie erlebt, dass diese die Fassung verlor, was vielleicht daran lag, dass sie sich um die Vorräte und die Essenszubereitung kümmerte. Wer sich stets mit derart irdischen Dingen beschäftigte, war wohl fester in der Welt verwurzelt und nicht so leicht umzustoßen wie vergeistigtere Gemüter. Die Schwester Portaria war verwirrt - wahrscheinlich weniger ob dieser Zusammenkunft, sondern weil es sie immer noch beschäftigte, vor wenigen Tagen den jungen Mann auf der Schwelle des Klosters gefunden zu haben. Ihr Amt brachte sie mit der Welt zwar häufiger in Berührung als die anderen, aber diese Welt klopfte meist behutsamer an - in Gestalt von Bettlern, von Mönchen und Priestern oder von Pilgern. Blutverschmiert waren diese alle nicht.
    Die Kustodin, die regelmäßig die Glocken zu läuten hatte und der die Verwaltung des Kirchenschatzes oblag, lächelte falsch. Die Äbtissin hatte sie im Verdacht, oft mit Absicht Unfrieden zu säen, auf dass sie die anderen Schwestern mit ihrer Verbitterung ansteckte. Bis jetzt hatte sie sie nie offen dafür zur Rede gestellt - und auch künftig würde sie es nicht tun, weil es nicht länger zu ihren Pflichten zählen würde.
    Die Magistra wirkte etwas ärgerlich. Sie war für die Erziehung und Ausbildung der jungen Mädchen verantwortlich, memorierte mit ihnen die Psalmen, brachte ihnen Grammatik bei und unterwies sie in der Kunst des Schreibens. Ebendieser Unterricht war an diesem Morgen unterbrochen worden, und obwohl die ihr anvertrauten Nonnen deswegen am Ende des Jahres nicht weniger gelernt oder geschrieben haben würden, glaubte die Äbtissin den Vorwurf zu hören, ihr Amt und ihre Aufgabe zu gering zu bewerten.
    Die Spannung wuchs, je länger die Äbtissin schwieg. Sie entschied, es schnell hinter sich zu bringen und verzichtete sogar auf ein Gebet, obwohl im Kloster gewöhnlich für alles, was man tat, der Beistand Gottes erfleht wurde. Gott allerdings - so befand sie - hatte mit ihrer Sache nichts zu tun.
    »Ich werde vom Amt der Äbtissin zurücktreten«, erklärte sie mit fester Stimme. »Noch heute werde ich dem Bischof darüber Kunde geben. Bis er eine Nachfolgerin bestimmt, übernimmt die Schwester Subpriorin alle meine Pflichten.«
    Sie hatte Entsetzen erwartet, aufgerissene Augen, verwirrte Fragen, vielleicht sogar Geschrei, obwohl dergleichen verboten war.
    Stattdessen kam nichts - nur Stille. Die Schwestern blickten sie an und schienen nicht recht zu wissen, wer seines Geistes nicht mächtig war: die Äbtissin, weil sie dies verkündet hatte - oder sie selbst, weil sie etwas falsch verstanden hatten.
    Nun, die Ruhe machte es leichter. So musste sie sie nicht beschwichtigen, sondern konnte fortfahren. »Ich gebe das Amt auf, weil ich seiner unwürdig bin. Eigentlich bin ich das immer gewesen. Ja, jemand wie ich ist es nicht wert, eure Mutter zu sein. Leider fehlte mir bislang der Mut, dies einzugestehen - mir selbst und vor allem euch.«
    Verspätet brandeten dann doch Raunen und Rufe auf. Nicht alle mochten sie, in den Augen mancher führte sie das Kloster zu lasch, anderen erschien sie als zu gleichgültig, wieder anderen als zu verschwiegen. Und dennoch: An ihrer Tugend hatte man nie gezweifelt.
    Aus dem Gemurmel stach eine Stimme klar hervor. Es war die der jungen Mathilda, hochrot im Gesicht: »Aber warum nur?«
    Die Frage rührte an ihr Herz. Erst jetzt ging ihr auf, dass sie nicht nur selbst ein Opfer brachte, sondern auch den Schwestern eines abverlangte. Im Kloster mussten sie auf vieles verzichten - auf eines für gewöhnlich aber nicht: ihren Frieden.
    Sie wünschte kurz, sie könnte erklären, warum sie ihn erschütterte, könnte ihre Sünden klar benennen, sodass man darüber reden und dadurch der Erregung Herr werden könnte. Doch sie hatte keine Wahl.
    »Wenn ihr um meine Vergangenheit wüsstet, würdet ihr mich von hier verjagen. Ihr würdet mir nicht länger erlauben, in eurer Mitte zu leben.« Die Äbtissin ließ ihren Blick kreisen und sah, dass Mathilda blass wurde. »Ich kann nicht sagen, was passiert ist«, schloss sie, »aber ich kann auch nicht länger eure Äbtissin sein.«

IV.
    R OUEN S EPTEMBER 911
    »Ich will, dass du die

Weitere Kostenlose Bücher