Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
Rollos neuem Reich. Doch ob Stadt oder Dorf, ob Rouen oder nicht - ihre Welt bestand nur aus diesem kleinen Fleckchen Erde, und auf diesem Fleckchen stank es, und es war kalt.
Runa trug wieder ihren Wolfspelz und zog ihn nun fest um ihre Schultern. Sie umklammerte ihr Amulett, als sie sich auf den Boden hockte. Dort saß sie, fror und weinte. Sie fragte sich, ob sie jemals wieder das Sonnenlicht sehen und den Waldboden unter ihren Füßen spüren würde. Und sie verfluchte Thure.
Gisla wälzte sich unruhig auf ihrer Schlafstatt hin und her. Sie hatte sich zunächst davor gefürchtet einzuschlafen - gewiss, dass dunkle Träume sie heimsuchen würden. Nun hätte sie diese gerne ertragen, wenn nur endlich die Nacht vorüberginge, aber der verschmähte Schlaf wollte nicht kommen. Die Bank, auf der sie lag, war hart, nur mit einem Stück schmutzigen Leders bedeckt und bar eines Kissens, um den Kopf darauf zu betten. Und in der Luft hing ein Gestank, den Gisla nicht kannte, wahrscheinlich von den vielen ungewaschenen, verschwitzten Leibern. Der Gestank selbst war erträglich - das Wissen, wie nah diese vielen Leiber ihr waren, jedoch nicht.
Gisla hatte gehofft, sie dürfte an Aegidias Bettende schlafen wie Begga stets an ihrem, doch der Bischof hatte sie fortgeschickt - mit freundlichen Worten zwar, aber offenbar überzeugt, dass sie in Fredegards Auftrag die Königstochter begleitete und ihr, wie die Mutter, Angst vor Rollo und dem Leben an seiner Seite machen würde. Viel besser könne die sich an dieses Leben gewöhnen, so entschied er, wenn sie nicht mit einer Fränkin zusammen war, die die Nordmänner hasste.
Aegidia, die ganz selbstverständlich auf den Namen Gisla hörte, hatte keinen Einspruch dagegen erhoben, sondern wie zuvor ohne Unterlass vor sich hin geplappert. Dem Bischof hatte es gefallen, denn er hatte wohlwollend gelächelt - und Gisla war in die große Küche gebracht worden, wo die Unfreien schufteten. Sie selbst musste nicht mit anpacken, sollte aber fortan dort essen und schlafen. An Essen war jedoch nicht zu denken und an Schlaf noch weniger. Die vielen Menschen in diesem Raum hatten ihr bereits Angst gemacht, als noch Feuer im riesigen Herd glomm; nun, da es erloschen war und die Leiber durch das Mondlicht, das durch ein Fenster fiel, bedrohliche Schatten warfen, verging sie vor Furcht und vor Ekel ob all des Drecks.
Gisla wälzte sich wieder auf die Seite. Am Abend hatte sie geglaubt, nie wieder einen Bissen herunterbringen zu können, doch jetzt knurrte ihr Magen, und noch unangenehmer als der Hunger war das Brennen in der Blase. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal ihre Notdurft verrichtet hatte - aber sie wusste, dass sie keinen Schlaf finden würde, wenn sie es nicht so rasch wie möglich tat. Allein die Vorstellung, aufzustehen und sich durch die Dunkelheit und an den schlafenden Leibern vorbeizutasten, ließ sie zittern, aber irgendwann wurde das Bedürfnis, sich zu entleeren, mächtiger als die Angst. Gisla erhob sich von der Bank. Der Boden unter ihren Füßen war weich - entweder weil Unrat darauf verstreut lag, die Binsen faulig geworden waren oder er schlichtweg aus Lehm gemacht war. Vorsichtig stieg sie über die schnarchenden Unfreien hinweg. Einem trat sie auf die Hand, und aus dem Schnarchen wurde ein Stöhnen, doch ehe er ganz erwachte, hatte sie ihn schon hinter sich gelassen.
Trotz der Finsternis erreichte sie irgendwie die Tür und stellte erleichtert fest, dass es im Gang, der auf die Küche folgte, nicht dunkel war. Fackeln steckten in Halterungen an den Wänden; sie verströmten einen unangenehmen Gestank - ganz anders als in Laon, wo keine Fackeln, sondern Öllampen ihr Gemach erhellt und es nach Nuss oder Mohn gerochen hatte, aber sie spendeten Licht. Auch im Gang schliefen Unfreie, über die sie hinwegsteigen musste, zitternd ob des dünnen Kleides, in dem sie entsetzlich fror. Den Umhang hatte sie auf der Bank liegen lassen - zu der sie hoffentlich später zurückfinden würde. Fürs Erste war sie schon froh, den Abort zu erreichen.
Als Gisla das Ende des Ganges erreicht hatte, folgte sie nicht länger dem Licht, sondern der Kälte. In Laon hatten sich die Latrinen außerhalb des Gebäudes befunden, wenngleich sie diese nie hatte aufsuchen müssen, sondern immer die Nachtschüssel benutzt hatte. Alsbald ragte nicht länger graues Gemäuer, sondern schwarzer Nachthimmel vor ihr auf, und sie erkannte den Hof, in den sie gelangte, wieder. Hier waren
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