Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
nicht nur der Frieden zwischen dem fränkischen König und dem Anführer der Nordmänner geschlossen worden, sondern hatte auch Aegidias und ihre Täuschung den Anfang genommen, und Gisla war sich nicht sicher, ob Sankt Clarus dies gutheißen und ihre Gebete erhören würde.
Im nächsten Augenblick verstummten ihre Gebete unvermittelt. Der Wagen hielt, die Tür wurde geöffnet; davor standen keine Mönche, sondern wiederum Krieger. Ob es die gleichen waren, die zuvor gekämpft und getötet hatten, wusste Gisla nicht. Nur dass jene wilden Tieren geglichen hatten, diese aber erstaunlich menschlich wirkten. Die Nordmänner erschienen ihr lediglich größer als die Franken, ihre Schädel länger und zugleich schmaler, ihre Bärte rötlicher und ihre Augen blauer. Gewiss, sie waren Furcht erregend, weil sie riesig waren, hässlich aber nicht, und ihre Kleidung hatte manches mit der der Franken gemein. Die einen waren elegant gekleidet mit geflochtener Brünne, Pelzen des Blaufuchses und dicken Reifen um das Handgelenk - die anderen einfacher mit schlichtem Kittel, langbeiniger enger Hose und Umhang. Nackt aber war keiner, obwohl Begga es befürchtet hatte. Schließlich, so hatte sie gesagt, seien auch Tiere nackt und die Nordmänner kaum besseres als solche.
Noch etwas anderes hatte Begga behauptet: Die Nordmänner seien grausam und wild, voller Beutegier, Mordlust, Zerstörungswut, und während des Kampfes hatte Gisla das auch geglaubt. Nun aber standen sie ruhig beisammen, und jene, die nicht vor dem Wagen warteten, um Aegidia und sie ins Innere zu geleiten, wärmten sich am Feuer, das in der Mitte des Hofs brannte, rösteten Fleisch darüber und tranken ein Gebräu aus dunklen Schläuchen.
So ins Schauen vertieft hatte Gisla nicht bemerkt, dass nicht nur die Krieger Rollos darauf warteten, bis sie dem Gefährt entstiegen, sondern auch der Bischof von Rouen. Als ihr Blick auf ihn fiel, duckte sie sich rasch. Aegidia hingegen, sich trotz aller Aufregung bewusst, was sie zu tun hatte, richtete ihren Schleier, stieg als Erste aus dem Wagen und trat mit gestrafftem Rücken auf Witto von Rouen zu. Er sagte etwas zu ihr, und sie antwortete.
In Gislas Ohren rauschte es so laut, dass sie es nicht verstand. Als sie den Blick hob, entdeckte sie jedoch keinerlei Misstrauen in des Bischofs Gesicht. Ob es an der Dunkelheit lag oder an dem geglückten Tausch ihrer Kleidung - er zweifelte keinen Augenblick lang daran, dass Gisla vor ihm stand.
Langsam ließ das Rauschen nach. Sie hörte, wie Witto erklärte, dass der ursprüngliche Bischofspalast zerstört worden sei und er darum im alten Palast des Grafen - Odilo war der Name des letzten - residiere, nicht von fränkischen Kriegern bewacht, die Rouen nicht betreten dürften, sondern von den Männern Rollos. In diesen Palast bat er sie nun, und als Gisla ihn wenig später in Aegidias Gefolge betrat, war sie keine fränkische Prinzessin mehr, sondern nur mehr deren Dienerin.
Runa streckte vorsichtig ihre Glieder. Jedes einzelne tat weh, doch keines schien gebrochen zu sein. Sie konnte sowohl Beine als auch Arme bewegen, schließlich aufstehen und herumgehen. Sonderlich weit kam sie nicht - der Raum, in den man sie geworfen hatte, war eng, niedrig und von einer großen Tür verschlossen.
Nur schwer konnte Runa das Verlangen unterdrücken, sich mit aller Macht gegen diese Tür zu werfen. Sie wusste, es war sinnlos - sie war zu schwach, um sie aufzubrechen. Und selbst wenn es ihr gelänge - der Kerker wurde gewiss von Männern bewacht, den gleichen Männern, die zuvor so roh mit ihr umgegangen waren.
Sie hatten sie nach Thure befragt, bereit, notfalls jedes Wort mit Gewalt aus ihr zu holen, und obwohl Gewalt nicht nötig war, weil sie schnell und viel erzählte, was sie von Thure wusste, wurde sie trotzdem geschlagen - ins Gesicht, in den Leib. Einer riss an ihrem kurzen Haar, ein anderer kniff ihr grob in den Arm. Immerhin hatten sie ihr nichts Schlimmeres angetan, sie nicht getötet. Und sie nicht geschändet. Was genau sie von Letzterem abgehalten hatte, wusste Runa nicht - weil es bei Nordmännern als Verbrechen galt, eine Jungfrau aus dem eigenen Volk zu schänden oder vielmehr, weil sie so gar nichts mit einer solch lieblichen Jungfrau gemein hatte?
Am Ende hatten die Männer sie auf ein Pferd geworfen, sie in eine Stadt gebracht, von der sie nicht viel gesehen hatte, und dann in dieses verdreckte Loch geworfen. Sie vermutete, dass die Stadt Rouen war, das Zentrum von
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