Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
Ihre Haube hatte sich gelöst, das graue Haar, fein wie Spinnweben, stand wirr nach allen Seiten ab, aus dem Mund floss ein dünnes Rinnsal Blut.
»Großmutter!«
Diesmal konnte Runa schreien, aber die Großmutter hörte sie nicht mehr, sah sie nicht mehr an. Runa rüttelte den dürren Leib, dessen Arme und Beine merkwürdig verdreht neben dem Rumpf lagen, als gehörten sie nicht mehr zu ihr. Ihr Mund öffnete sich, ihr Atem hingegen war nicht zu hören, das Herz schlug nicht mehr gegen die knöchrige Brust, die Augen blieben geschlossen.
»Großmutter!«
Runa streichelte und liebkoste den hageren Körper, zerrte daran und hämmerte schließlich auf ihn ein. Nichts brachte die alte Frau dazu, aufzustehen.
»Das ... das wollte ich nicht ...«, murmelte der Vater, nicht länger zornig jetzt, sondern hilflos und betroffen.
Runa ließ vom Körper Asruns ab und wandte sich Runolfr zu. »Wie konntest du ...«, setzte sie tonlos an.
Sie kam nicht weiter. Polternd wurde die Tür geöffnet, und drei Männer standen im fahlen Nachmittagslicht.
»Das Vieh ist zerlegt«, erklärte der Mann mit dem vernarbten Gesicht, der die Kuh geschlachtet hatte, noch immer grinsend, »sonderlich mehr konnten wir nicht finden, was nützlich wäre. Ein Wunder, dass hier jemand den Winter überleben konnte.«
Er ließ seinen Blick neugierig kreisen, sah dann Asrun an der Wand liegen. Sein Grinsen erlosch nicht, und Runa konnte nicht entscheiden, wen sie mehr hasste - diesen Fremden oder ihren Vater.
»Ich gehe nicht mit!«, schrie Runa erneut. »Ich werde hierbleiben! Ich werde bei Großmutter bleiben!«
Wieder begann sie den leblosen Leib zu stoßen, zu schütteln, zu streicheln, zu küssen, wieder blieb jedes Lebenszeichen aus. Sie sah nicht, wie Runolfr sich ihr mit schweren Schritten näherte, kurz zögernd stehen blieb, dann aber ihre Taille umfasste und sie hochhob.
Runa schlug um sich und strampelte mit den Füßen. »Ich gehe nicht von hier fort!«, schluchzte sie.
Runolfr warf sich die junge Frau über die Schultern. Sie war stark, aber nicht so stark wie er. Die Luft blieb ihr weg, die Augen begannen zu tränen.
»Lass mich!«, schrie sie, als er sie zur Tür trug.
Sie rammte ihr Knie in seinen Leib, der sehr dick war. Es musste viel zu essen und zu trinken geben in diesem fernen Frankenreich, dessen Norden nun den Männern unter Rollos Führung gehörte. Er ächzte und hielt ihr die Beine fest, damit sie sich nicht mehr rühren konnte.
»Lass mich los!«
»Halt dein Maul!«, brüllte Runolfr ungehalten, hob wieder seine Faust und drosch auf Runa ein.
Sie trotzte ihr, anstatt ihr auszuweichen, genauso wie es zuvor Asrun getan hatte.
So soll er eben auch mich töten, dachte Runa, ehe ihre Welt, die Welt des schwarzen Fjords, der weißen Berge und des verrauchten Langhauses in Dunkelheit versank.
Runa wurde von einem Glucksen geweckt, als fiele ein Stein ins Wasser. Sie glaubte, jemanden nach ihr rufen zu hören, nicht laut, nicht eindringlich, sondern erschöpft, und lauschte konzentrierter. Aus dem Glucksen wurde das Greinen eines Kindes, das zu schwach für ein raues Leben war, vielleicht auch die Klage eines Alten, der seine letzten Tränen auf der Welt vergoss.
Ihre Großmutter ... gewiss war es die Großmutter, die nach ihr rief!
Runa fuhr ruckartig hoch - ihr Kopf schien zu zerspringen. Ein Greifvogel schien in ihrem Nacken zu sitzen, die Krallen tief in ihrer Haut versenkt; er trug sie durch die Lüfte zu seinem Nest, um sie seinen Jungen zum Fraß vorzuwerfen.
Doch dann gewahrte sie, dass sie nicht durch eiskalte Lüfte flog, sondern in einem niedrigen, stickigen Raum hockte. Und dass das Glucksen, das sie vernommen hatte, kein menschlicher Laut war und schon gar kein Hilferuf ihrer Großmutter Asrun, sondern von einem hölzernen Gegenstand stammte, der die Wasseroberfläche durchschnitt, in die Tiefe tauchte, dann wieder nach oben drängte.
Ruder. Sie war auf einem Schiff.
Auf dem Schiff ihres Vaters?
Das Knirschen unter ihr kam von den Holzbohlen, die der unruhigen See zu trotzen versuchten. Runa betastete den schwankenden Boden; Holzsplitter bohrten sich in ihre Haut. Sie griff in ihren Nacken und fühlte eine Schwellung und eine nässende Wunde. Doch trotz der Schmerzen, mehr gleißender Blitz nun als Krallen eines Raubvogels, konnte sie aufrecht sitzen, ohne zur Seite zu sinken, konnte tiefe Atemzüge machen, ohne dass ihre Brust zersprang, konnte Beine wie Arme strecken. Nichts war gebrochen,
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