Tochter des Ratsherrn
dauerte nicht lange, bis er anfing, mit den Zähnen zu klappern. Gerade als er beschloss, es sei nun genug, und sich daranmachen wollte, das Erdloch zuzuschütten, vernahm er ein Geräusch. Johannes hielt den Atem an und blickte zum Haus hinüber. Zu seinem grenzenlosen Schrecken öffnete sich die Hintertür. Im letzten Moment konnte sich Johannes mit einem beherzten Sprung hinter die Scheunenwand in Sicherheit bringen. Sofort schossen ihm etliche Gedanken durch den Kopf. Hatte er sich durch irgendetwas verraten? Wurde er beobachtet? Kam man ihm nun auf die Schliche? Blitzartig hatte die Aufregung alle Gedanken an die Kälte vertrieben. Er hörte auf zu zittern und konzentrierte sich mit all seinen Sinnen auf die Tür. Im fahlen Licht des Mondes konnte Johannes erkennen, wie eine Gestalt auf den Hof hinaustrat. Es war Vater Everard.
Johannes atmete hörbar aus. Er war zutiefst erleichtert, dass es der Geistliche war, der schlaftrunken aus dem Haus kam. Trotzdem wusste er nicht, was er tun sollte. Wenn er in diesem Moment aus seinem Versteck trat, würde sich der Priester sicher erschrecken – und das konnte sie beide verraten.
Vater Everard kam genau auf Johannes zu, ohne ihn jedoch zu bemerken. Er trat an das Reichenstraßenfleet, legte sein Gemächt frei und pisste, laut stöhnend vor Erleichterung, ins Wasser. Aus Ermangelung einer besseren Idee sprang Johannes aus seinem Versteck und eilte zu dem Priester, den Zeigefinger auf die Lippen gelegt. Gleichzeitig machte er mit der anderen Hand eine beschwichtigende Bewegung, die dem Kirchenmann bedeuten sollte, still zu sein. Gleich darauf sollte er diese Handlung allerdings ganz fürchterlich bereuen.
Der Geistliche fuhr zurück, als wäre neben ihm ein tollwütiger Wolf aufgetaucht, und stieß einen spitzen Schrei aus.
Genau das hatte Johannes vermeiden wollen. Wie wild fuchtelte er mit den Händen, um dem zu Tode erschrockenen Vater Everard aufzuzeigen, dass nur er es war, der dort vor ihm stand.
Endlich erkannte der Priester die Magd. »Was zur Hölle tust du hier in der Dunkelheit?«, zischte er erbost. »Mich hätte fast der Schlag getroffen.«
Johannes hätte am liebsten zurückgeschnauzt, dass er dabei war, seine letzte Aufgabe zu erfüllen, und dass der Priester sie mit seinem Geschrei um ein Haar verraten hätte, doch wie immer musste er schweigen. Stattdessen zeigte er auf das Loch im Boden, nahm den Stock zur Hand und holte damit die nun rote Haarsträhne heraus.
Nun verstand Vater Everard und nickte zufrieden. »Gut gemacht«, flüsterte er. Nachdem er die Farbe der Haare genauer betrachtet und für ausreichend befunden hatte, befahl er Johannes: »Los, besorge einen Lumpen, damit ich die Haare darin einwickeln kann.«
Johannes tat, wie ihm befohlen, schlug die Haare in ein Stück Tuch und übergab sie Vater Everard. Dieser setzte wieder sein boshaftes Lächeln auf, welches im Mondschein noch unheimlicher wirkte.
»Morgen, Magd Johanna. Morgen wird es endlich so weit sein. Denn morgen ist das Fest zu Ehren des Krans am Hafen. Ganz Hamburg wird dort versammelt sein, und ich werde diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen.« Er blickte Johannes noch einmal direkt in die Augen und zeigte mit dem Finger auf ihn. »Und du wirst mir zu Hilfe kommen. Ich erinnere dich nochmals daran: Wenn du willst, dass ich die Magd Agnes verschone, wirst du tun, was ich von dir verlange. Hast du verstanden?«
Johannes nickte bloß.
»Gut, also höre zu. Es ist mir gleich, wie du es anstellst, aber wenn die Glocken das Fest einläuten, wirst du dort sein. Schleiche dich heimlich fort, oder erdenke dir eine List, um von hier wegzukommen. Es ist sowieso eins, denn nach dem morgigen Tage wirst du nicht mehr die Magd der Familie von Holdenstede sein. Wer weiß, vielleicht werde ich dich bei mir aufnehmen, wenn ich bekomme, was mir zusteht.« Nach diesen Worten erteilte er Johannes einen letzten scheinfrommen Segen und ging zurück ins Haus.
Es war ein heimliches Unterfangen. Weder Vater Everard noch Johanna noch Agnes wussten etwas von dem Plan, die Stadt zu verlassen. Je weniger Leute eingeweiht waren, desto geringer war die Gefahr, dass jemand davon etwas mitbekam, der ihnen vielleicht noch gefährlich werden konnte.
Runa hatte nicht einmal Freyja und Thymmo die Wahrheit erzählt, zu leicht hätten die unbedarften Kinderlippen sie verraten können. Es war besser, wenn sie stattdessen mithilfe einer kleinen Lüge bei guter Laune gehalten wurden. Darum
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