Tochter des Ratsherrn
seine Kinder in Sicherheit waren. Und so hatte er eben mit Ragnhild alle Einzelheiten der kurzen Reise nach Eppendorf besprochen.
Da Runa so kurz vor der Niederkunft stand und einen so langen Fußmarsch wohl kaum überstehen würde, hatte Godeke auf Walthers Geheiß einen Pferdewagen besorgt. Um nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen, sollte dieser vor den Stadttoren warten. So würden die Frauen nur ein paar hundert Schritte tun müssen, um unbemerkt zu fliehen.
Ein Tag für diese Flucht war schnell gefunden. Das Fest, welches zu Ehren des ersten Hamburger Tretkrans am Hafen stattfinden sollte, bot ihnen eine günstige Gelegenheit. Jedermann würde dort sein, um zu feiern, und niemand würde einer Gruppe Frauen und Kinder große Beachtung schenken, die sich heimlich davonstahl. Doch dieser Tag war schon morgen.
Gerade hatte Ragnhild Alberts dunkles Kontor verlassen, und Walther saß wieder allein vor der kleinen Kerze auf dem Schreibpult. Gedämpft hörte er die Stimmen der Hausbewohner vor seiner Tür. Er hatte seine Schwiegermutter gebeten, ihn einen kurzen Augenblick allein zu lassen.
Walther wusste, dass ihr Vorschlag die beste Lösung darstellte. Waren seine Lieben erst einmal fort, würde er sich in Ruhe um die Angelegenheiten kümmern können, die Alberts Einlager mit sich brachte. Es galt, die Brautgabe aufzutreiben und mit Graf Gerhard II. über Alberts Freilassung zu verhandeln. Wenn ihm Letzteres gelang, würde er das erste Problem nicht alleine lösen müssen. Albert wüsste sicher Rat. Ihm würde der aufgeblasene Hereward von Rokesberghe zuhören. Aber dafür musste sein Freund und Schwiegervater erst einmal die Freiheit erlangen.
Walther hatte den Frauen vorerst nichts von dem Brief erzählt, den er wenige Tage zuvor an Gerhard II. geschickt hatte. Er wollte die Familie nicht unnötig in Aufregung versetzen. Sollte der Graf tatsächlich in Walthers Vorschlag einwilligen, konnte er das immer noch nachholen. Obwohl er Tag und Nacht darum betete, dass der Schauenburger auf seinen Vorschlag eingehen würde, fürchtete sich Walther gleichzeitig vor dessen Entscheidung. Es gab keinen zweiten Plan, und er fragte sich, wie die Familie auf den Verlust ihres Hauses reagieren würde, selbst wenn Alberts Rückkehr den Schmerz darüber mit Sicherheit lindern würde. Doch was immer auch geschehen mochte – wenn das Unvermeidliche eintrat, wollte er seine Lieben besser weit weg wissen.
Heimlich wie ein Dieb schlich sich Johannes aus der Kammer der Mägde, so leise und vorsichtig, dass weder Marga noch sonst wer im Hause erwachte. Barfuß lief er über den kalten Boden und öffnete die hintere Türe des Hauses, die auf den Hof führte. Sie stand kaum eine Handbreit offen, als sie plötzlich ein lautes Quietschen von sich gab. Sofort hielt Johannes inne. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, und sein Atem ging schnell. Hatte ihn jemand gehört? Einen Moment verweilte er unbewegt und lauschte mit weit aufgerissenen Augen, bis er sich sicher war, tatsächlich der einzige ruhelose Geist in dieser Nacht zu sein. Dann erst trat er auf den Hof hinaus.
Es war eine wolkenlose Nacht. Der fast volle Mond stand am Himmel. Johannes’ Augen gewöhnten sich schnell an das silberne Licht – war es doch draußen heller als drinnen im Haus. Der Mondschein würde ausreichen für das, was er vorhatte.
Geschwind lief er über den Innenhof zum Reichenstraßenfleet und kauerte sich in den Schutz der Böschung. Hier würde ihn des Nachts niemand stören. Als er sich sicher fühlte, förderte er etwas aus den Falten seines Rocks zutage. Es war eine lange blonde Haarsträhne, die Johannes vorsichtig wie einen Schatz auf einem Stein drapierte. Dann griff er erneut in seine Rockfalten und zog ein kleines Säckchen mit einem Pulver darin hervor. Er hatte nicht so viel davon bekommen können, wie er eigentlich hatte haben wollen, und war daher sorgsam darauf bedacht, nichts zu verschütten. Wie gut, dass in dieser Nacht kein Wind wehte, dachte Johannes, als er ein kleines Loch in den Boden grub. Darein füllte er etwas Wasser aus dem Fleet und fügte das Pulver und die Haarsträhne hinzu. Dann nahm er einen Stock zur Hand und begann das Ganze umzurühren. Er hatte keine Ahnung, wie lange die Prozedur dauern sollte, weshalb er beschloss, lieber noch etwas weiterzurühren. Sein Pulver war aufgebraucht; einen zweiten Versuch würde es nicht geben.
Johannes begann zu frieren. Die nächtliche Kälte kroch ihm beharrlich in die Glieder. Es
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