Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tochter des Ratsherrn

Tochter des Ratsherrn

Titel: Tochter des Ratsherrn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Tan
Vom Netzwerk:
mitnehmen, da Hereward noch einmal zu ihr zurückkehren würde. Nein, sie hatte sogar gesagt, dieser Tag würde niemals kommen. Runas Worte eröffneten ihr eine andere Sicht auf die Dinge. Ja, sie würde das Tuch mitnehmen, und wenn sie es betrachtete, sollte es sie nicht an ihre Schmach erinnern, sondern daran, was Hereward verpasste. Auch wenn das absolut gar nichts an der Tatsache änderte, dass sie eine unverheiratete Frau war und vielleicht sogar für immer blieb, gab es ihr auf eine Weise ein Gefühl der Stärke. »Danke, Runa«, sagte sie daher schlicht.
    Die Schwestern umarmten sich so fest, wie es Runas runder Bauch noch zuließ, und machten sich wieder daran, die Sachen zusammenzusuchen, die es mitzunehmen galt.
    Vater Everard legte sich seine schwere Tasche über die Schulter und schlich aus seiner Kammer. Unbemerkt erreichte er die Diele und trat geräuschlos aus der Haustür hinaus auf die Reichenstraße. Es war leicht für ihn, sich unter die Leute zu mischen, denn sämtliche Bürger Hamburgs waren scheinbar schon auf den überfüllten Straßen unterwegs. Alle wollten zu dem lang erwarteten Fest am Hafen.
    Der gefeierte Tretkran war eine der wundersamen Erfindungen, die nur die klügsten Köpfe verstanden. Andere Städte hatten es vorgemacht, und jetzt wollte auch Hamburg diese Neuerung zu ihrem Vorteil nutzen. Angetrieben wurde das Bauwerk durch den Kranführer, der im Inneren saß. Über ein Gewirr von Rollen, Seilen und Eisenketten, die an einer Art Schiffsmast befestigt waren, konnte der Kran die Ladung der Schiffe auf den Kai hieven oder andersherum die Ladung von den Pferde- und Ochsenwagen auf die Schiffe befördern. Der Hafen war stetig gewachsen und die Anzahl der täglich einlaufenden Schiffe ebenso, was das rechtzeitige Löschen zunehmend zu einem Problem machte; die nachrückenden Schiffe mussten oft lange warten. Mit dem neuen Tretkran, der mit weniger Manneskraft mehr leistete, sollte dieses Problem nun gelöst sein.
    Der Priester hastete mit dem Strom der Hamburger zunächst nach Westen und dann nach Süden. Je näher sie dem Hafen kamen, desto dichter wurde das Gedränge.
    Der Hafen selbst war bereits überfüllt mit Leuten aus allen Schichten. Es war ein seltenes Bild, welches sich nur an Festtagen bot. Nirgendwo sonst mischten sich Handwerker unter die Schiffer oder Bauern unter die Kaufleute. Alle standen einträchtig eng an eng, ohne sich an der Gegenwart der anderen zu stören.
    Auch Everard blieb nichts übrig, als sich dicht an dem einen oder anderen stinkenden Leib vorbeizuquetschen. Er kam nur langsam voran. Wo er auch hinsah, wurden allerlei Speisen verkauft und Dienste jeder Art angeboten. In der Luft lag der Duft köstlichster Speisen, vermischt mit dem ekelerregenden Gestank schwitzender Menschen. Es herrschte ein ohrenbetäubender Lärm. Der Gesang der Gaukler und der liebliche Klang ihrer Instrumente wurden noch übertönt von dem Geschrei der Marktweiber und den ausgelassenen Rufen der Hamburger.
    Obwohl Vater Everard nun schon eine ganze Weile in der Stadt wohnte, hatte er sich noch immer nicht an die beklemmende Enge der vielen Leute und den verschwenderischen Überfluss, der hier vorherrschte, gewöhnt. In Sandstedt hatten sie häufig Not gelitten. Selbst wenn die Ernten der Bauern gut verlaufen waren, kamen die Dorfbewohner gerade so über den Winter. Hamburg war anders. Hier schien es keine Not zu geben. Jedenfalls keine offensichtliche. Selbst die Bettler vor den Kirchen bekamen reichlich von den Wohlhabenden. Everard genoss es zwar, nicht mehr darben zu müssen, doch der Anblick der eitlen Weiber war ihm ein Dorn im Auge. Ein ungebildeter Mann könnte sicher glauben, dass Gott diese Privilegien wahrlich ungleich verteilt hatte, aber er wusste es besser. Der Teufel war es, der den Bürgerinnen ihren Wohlstand gab und der so die schwächsten Wesen damit zu verführen versuchte. Heute jedoch würde er dafür sorgen, dass einer von ihnen der Teufel ausgetrieben wurde.
    Erschrocken sprang Everard zur Seite, als eine Bäuerin einer Henne den Kopf mit einem Hieb abschlug. Achtlos ließ sie ihn zu Boden fallen, wo er dem Priester direkt vor die Füße rollte. Als sie das noch zappelnde Federvieh ihrer Kundin übergab, bemerkte sie den erbosten Blick des Geistlichen, der sie aber keineswegs einzuschüchtern schien. Gleichgültig zuckte sie mit den Schultern und sagte: »Passt halt auf, wo Ihr hinlauft, Vater.«
    Im ersten Moment wollte Everard entrüstet aufbrausen, doch

Weitere Kostenlose Bücher